
Ein Gastbeitrag von Stephan Franzelius
Im Laufe des vergangenen halben Jahres konnte ich mit vielen Menschen in dieser Partei sprechen. Das ist eigentlich etwas positives, aber hat mich manchmal auch sehr verstört. Nun nach der Wahl würde ich gerne auf ein paar dieser Aussagen zurück blicken, da sie doch den Zustand dieser Partei deutlicher zeigen, als es ein Wahlergebnis könnte. Denn unabhängig des Ergebnisses des sonntäglichen Abends würden diese Aussagen eigentlich zeigen, dass das Schiff „Piratenpartei Deutschland“ nicht nur ein Leck hat, sondern bereits am Kentern ist. Im Vorfeld der Wahl hätte dies sicher viele demotiviert und dann noch schlimmere Ergebnisse provoziert, aber nach der Wahl ist vor der Wahl und irgendwann muss auch mal Tacheles geredet werden. Daher sollte sich auch jeder kritisch mit sich, seinem Verhältnis zur Partei, ihrem Programm und ihren Mitgliedern auseinander setzen und vor der Bundestagswahl eine Entscheidung treffen, ob er dort wo er jetzt steht, richtig steht.
Die Aussagen sind nicht immer 1:1 sondern nur sinngemäß. Wer sich wiedererkennt, sollte nachdenken, aber sich nicht zu sehr auf den Schlips getreten fühlen. Häufig kamen die Aussagen auch von mehreren Personen, allerdings habe ich hier eine Gewichtung vorgenommen. Es macht einen Unterschied, ob eine Aussage von einem Kandidaten oder Landesvorstand in der Parteiöffentlichkeit zu hören ist oder von einem Basispiraten aus Hintertupfingen in einem Gespräch zwischen vier Augen.
„Wie konnte das bloß passieren, obwohl wir dieses Mal halbwegs häufig in der Presse waren und wahrgenommen wurden? Das heißt ja die Leute kennen uns und haben sich aktiv gegen uns entschieden. Ich frag mich gerade, was wir hätten besser machen können. Wir waren ja eigentlich omnipräsent im Radio, Fernsehen, Print & auf Plakaten.“ – Ein Kandidat nach der Wahl
Wie war die Partei denn außerhalb ihrer Blase omnipräsent? Wenn man ehrlich ist: gar nicht. Insgesamt hielten sich die Plakatierungen in ganz Deutschland in Grenzen, denn nur dort, wo noch genug aktive Piraten vorhanden sind, wurde plakatiert. Das bedeutet in manchen Bundesländern (fast) gar nicht. Im Radio liefen nur die offiziellen Spots gemäß der Zuteilung des ÖRR. Das sind für solche kleinen Parteien nicht besonders viele und auch im Fernsehen war es nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk und ein regionaler Sender. Printmedien und weitere Medienberichte gab es vereinzelt, aber vor allem regional. Bei lediglich 18 Kandidaten und Bundesländern ohne Kandidaten ist es auch hier nicht verwunderlich, wenn dann weiße Flecken auf der Landkarte erscheinen. Hier sind wir wieder beim Blasenphänomen, auf das ich später noch einmal zurück komme.
„Plakate sind ineffektiv und überzeugen niemanden. Deswegen sollten wir mehr mit den Menschen reden und sie überzeugen, beispielsweise an Infoständen.“ – Der stellvertretende Landesvorsitzende eines Landesverbands
Auf die Nachfrage, wie viele Infostände denn in den nächsten Wochen genehmigt oder geplant sind, kam die ernüchternde Antwort: Keine, denn man hätte kein Personal. Darauf war dann meine Antwort: „Also das Eine ist zu ineffektiv, deswegen wolle man dafür kein Geld ausgeben, aber das was effektiv sei ginge aufgrund mangelnder Ressourcen auch nicht. Also macht man lieber gar nix.“ Das passte demjenigen auch nicht, und ich bekam die Antwort, dass man das ja so nicht sagen könne. Aber das ist es, auf den Punkt gebracht. Selbst Menschen, die unsere Werte, Ziele und das Programm kennen, vergessen, dass es uns gibt, weil die Sichtbarkeit fehlt. Und dafür reichen auch Plakate. Wie oft werden wir mit dem Satz angesprochen „Euch gibt’s noch?!“ und das zeigt eigentlich schon alles. Hier müssten wir uns den Menschen nur ins Gedächtnis rufen und würden allein dadurch Stimmen bekommen, wenn man diese denn haben will.
„Das ist eine Europawahl, da schneiden wir grundsätzlich immer besser ab als bei anderen Wahlen.“- Ein Mitglied des Bundesvorstands
Und das ist ein Grund sich keine Sorgen zu machen? Wo das hinführt, haben wir jetzt gesehen. Mit wie viel Naivität man da ran gehen kann, ist erschreckend. Man ruht sich auf seiner ehemaligen Reichweite und Größe aus, die aber tatsächlich nicht mehr vorhanden ist. Das merkt man spätestens auf den Bundesparteitagen. Wir bewegen uns durch Twitter oder ähnliche Plattformen in einer Blase, und die meisten in dieser Partei scheinen das nicht mal mehr zu merken. Auch wenn sie selbst ständig darüber reden. Wenn man sich selbst durch eine immer gleiche Gruppe bestätigen lässt, heißt das trotzdem nicht, dass die eigene Einschätzung die richtige ist. Denn man hat ja immer nur die selbe Kontrollgruppe verwendet.
„Wir sind über 5.000 Mitglieder. Wir sind noch immer groß und relevant.“- Verschiedene Mitglieder der Partei
§4 Absatz 1 Satz 1: „Jeder Pirat hat das Recht und die Pflicht, im Rahmen dieser Satzung und der Satzung seines Landesverbandes die Zwecke der Piratenpartei Deutschland zu fördern und sich an der politischen und organisatorischen Arbeit der Piratenpartei Deutschland zu beteiligen.“ – Wenn die Aussage über diesem Absatz so stimmen würde, würden wir innerhalb von vier Wochen nach der Aufstellungsversammlung für die Europawahl die notwendigen Unterstützungsunterschriften zusammengesammelt haben. Dafür hätten wir nur 4.000 gebraucht. Die Realität ist: Es sind vielleicht noch 250 Piraten verblieben, die aktiv Dinge tun. Und das ist sehr wohlwollend geschätzt, wobei es auch sehr unterschiedlich ist was sie zu tun bereit sind. Bestes Beispiel ist die Programmarbeit: Es sind seit mehreren Bundesparteitagen immer dieselben Gesichter, die Programmanträge stellen. Dabei lebt eine derart basisdemokratische Partei davon, dass jeder seine Expertise einbringt. Nur dort wo noch mehrere Piraten einen gemeinsamen Themenschwerpunkt und vor allem eine Meinung haben, bewegt sich im Programm überhaupt was. Oder es gibt auch ein oder zwei „Programmmaschinen“, die Anfragen von Interessenverbänden aufnehmen und einfach in Anträge umschreiben. Ob diese dann wirklich so sinnig sind, lasse ich mal dahingestellt.
„Ich bin zwar Vorstand, aber das ist hier alles nur ein Ehrenamt!“- Verschiedene Vorstandsmitglieder unterschiedlicher Gliederungen
Es gibt in Deutschland 1,3 Millionen(!) Feuerwehrleute – davon sind nur gut 300.000 Berufs- oder Werkfeuerwehrleute. Wenn diese Million diese Einstellung an den Tag legen würde, würden keine Brände mehr gelöscht oder Verletzte nicht mehr gerettet. Ja, das ist ein krasses Beispiel, aber auch in anderen Bereichen ist es nicht anders. Sportvereine, Schützenvereine oder Vereine im allgemeinen leben von ihren Ehrenamtlichen. Das heißt viel Arbeit und dafür wenig bis gar kein Geld. Trotzdem tun sich diese Menschen das an, erledigen ihre oft auch unangenehmen Aufgaben und opfern ihre Freizeit. Unser Ehrenamt als Vorstände (und Basis) heißt „Piratenpartei“ und das bringt nun mal auch viele unangenehme Seiten mit sich. Vorstände in normalen Vereinen haben meist viel weniger Vorgaben zu erfüllen, wir haben ein eigenes Gesetz: Das PartG. Täglich grüßt das Murmeltier mit dem Rechenschaftsbericht oder den satzungsgemäßen Bestimmungen, sowie der Bürokratie für die Teilnahme an Wahlen. Das ist nicht jedermanns Sache, muss aber gemacht werden. Man kann da nicht Rosinen picken und nur die Sachen machen, die einem Spaß machen. Denn dann wären wir alle nur regelmäßig zusammen, würden über Politik diskutieren (mit und ohne anderen Menschen), aber wären keine Partei sondern ein bundesweiter Politikstammtisch. Man ist nicht zum Vorstand gewählt worden, nur um durch Deutschland zu touren und auf CSDs gute Laune zu verbreiten. Dafür ist zu viel Arbeit da.
„Ich bin in XXX aber unglaublich bekannt! Das wirkt sich sicher aus.“ – Verschiedene Kandidaten der ersten 10 Listenplätze
Tja Freunde: Suprise, suprise – Selbst mit 25% in einer Großstadt oder einem Landkreis, hilft das auf die bundesweite Masse gesehen nur bedingt. Kommunale Prominenz hilft nur dort wo sie entsteht und nicht bei einer bundesweiten Liste. Das kam mit Ansage – wer also nicht bereit ist, sich bundesweit zu engagieren, sollte sich nicht auf einer bundesweiten Liste wiederfinden. Einfach nur möglichst viele Namen drauf spammen bringt nichts – es werden ohnehin nur die ersten 10 abgedruckt. Diese müssen dann auch bundesweit unterwegs sein. Also auch bereit sein, ihren Jahresurlaub der Partei zur Verfügung zu stellen. Das ist auch eine der wichtigsten Lektionen für die kommende Bundestagswahl – bei Landeslisten lieber Klasse statt Masse, und für uns beginnt der Wahlkampf bereits am 29.06./30.06. – denn ab dem Zeitpunkt kann man sinnvolle Aufstellungsversammlungen machen. Für die Dippfelscheißer wie mich: frühestmöglicher Termin 27.06. Das ist kein Sprint, wie bei den großen und etablierten Parteien, sondern ein Marathon – nur wer durchhält, wird auch siegen.
„Wir sammeln ja erstmal nur die Unterstützungsunterschriften. Da brauchen wir keine Flyer oder das Programm. Der Wahlkampf kommt später!“ – Ein ehemaliges Bundesvorstandsmitglied
Wenn nicht dann, wann dann?! 4000 Unterstützungsunterschriften (zur Bundestagswahl werden es ja noch mehr…) bedeuten auch mindestens 4.000 Kontakte zu potenziellen Wählern. Das heißt jeder, den man dann schon überzeugt, ist eine Stimme mehr. Überzeugt man jemanden mit einem amtlichen Formblatt? Nein. Überzeugt man jemanden mit der Aussage: „Selbst wenn sie etwas anderes wählen, wir wollen nur auf dem Zettel stehen und allen eine Alternative bieten“? Nein. Das sind dann zwar die Unterstützungsunterschriften, und man hat dem gesetzlichen Auftrag zur Teilnahme an der Wahl genüge getan, aber man hat keinen einzigen Wähler gewonnen. Das rächt sich dann hinten raus am Wahlabend. Überraschender Weise gehen die Ergebnisse überall dort, wo man Präsenz zeigt, nach oben. Am deutlichsten, wenn man dort auch mit Inhalten und Kandidaten aktiv ist (siehe Aussage 2). Trotzdem verschenkt man die Zeit, wo man praktisch noch keine Konkurrenz hat dadurch, dass man sich auf die Formblätter und ihren Inhalt fixiert und den Wähler ignoriert.
„Ich mache das jetzt schon seit 10 Jahren! Erzähl du mir nicht wie Wahlkampf funktioniert!“
BRAVO! Und das schreibe ich bewusst in CAPS. Das ist der Satz, der mich überhaupt in diese Partei gebracht hat. Dieser Satz steht wie nichts anderes für den „ALTEN, WEIßEN MANN“ und das nicht auf sein Geschlecht oder die Hautfarbe bezogen. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein Synonym für eine Einstellung. In der Vergangenheit waren es häufig alte, weiße Männer, die über die Geschicke von Staaten, Firmen oder auch Imperien herrschten. Was das bedeutete spüren wir bis heute – Frauen werden noch immer systematisch benachteiligt, der Rassismus ist noch immer in der Gesselschaft verwurzelt und Jugend wird mit Unfähigkeit gleichgesetzt. Doch die Welt befindet sich im Wandel. Das bedeutet auch, dass man Dinge, die vor 10 Jahren versucht wurden und die damals gescheitert sind, heute wieder versuchen kann – mit Erfolg. Der Witz ist: Jeder, der diesen Satz sagt, spricht sich aus meiner Sicht die Kompetenz eh selbst ab – Seit 10 Jahren geht es nämlich bergab und nicht bergauf. Diesen Absatz schließe ich mit einem Zitat von Albert Einstein: Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
Also: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Nehmt euch die Zeit und denkt ernsthaft über euch, eure Ambitionen, eure politischen Ziele etc. nach und trefft Entscheidungen. Diese Partei befindet sich spätestens jetzt im akuten Überlebenskampf. Soll diese Partei leben oder sterben? Es liegt bei euch – der Basis einer Partei, die sich jetzt selbst finden muss oder für immer verloren ist.
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Ist es.
Der Autor hat als stellv. Bundesvorsitzender und Wahlkampfmanager persönlich Konsequenzen gezogen und ist von allen seinen Parteiämtern zurückgetreten und ist Ende Juni aus der Piratenpartei ausgetreten.
Eins davon nicht zum ersten Mal.