Dr. Harry Waibel ist Historiker und Diplom-Pädagoge und aktuell als freier Schriftsteller tätig. Sein Forschungsschwerpunkt ist Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus in der DDR.
Flaschenpost: Würden Sie uns einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben?
Dr. Waibel: Ende 1990 begann ich, als Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, mit meiner historischen Forschungsarbeit zum Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus in der DDR. Zu Beginn hatte ich ausschließlich Material aus dem Archiv der „Freien Deutschen Jugend” in Berlin-Pankow. Meine Forschungstätigkeit entwickelte sich ab dem Zeitpunkt intensiv, als der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des ehemaligen MfS“ der Wissenschaft Material der Geheimpolizei (MfS) zugänglich machte und ich rund 2.000 Dokumente sichten konnte.
Flaschenpost: Ihr Forschungsschwerpunkt ist Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus in der DDR. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Dr. Waibel: Das Thema hat mir mein Promotionsbetreuer Prof. Dr. W. Benz gegeben.
Flaschenpost: Wie haben Ihre persönlichen Erfahrungen und Ihr politisches Engagement in der außerparlamentarischen Opposition in den 1960er und 1970er Jahren Ihre Forschung beeinflusst?
Dr. Waibel: Ich bin seit 1968 Anti-Faschist. Im Frühjahr führten wir (Republikanischer Club Lörrach-Haagen) in der Stadthalle in Lörrach ein Go-in durch, weil wir eine Wahlkampfveranstaltung der NPD zum Baden-Württembergischen Landtag in eine Anti-Nazi-Veranstaltung umfunktionieren wollten. Leider hatten die behelmten Saalordner der NPD dagegen etwas handfestes einzuwenden. Irgendwann lag ich, wie ein Maikäfer, mit dem Rücken auf dem Boden und über mir stand ein behelmter Nazi. Seitdem hat mich die Thematik nicht mehr losgelassen.
Zum 1. Staatsexamen bearbeitete ich u. a. das Thema neonazistische Studenten in der Weimarer Republik. 1979 war ich Besucher des Konzerts „Rock gegen Rechts“ in Frankfurt am Main.
Flaschenpost: Was, würden Sie sagen, waren Ihre bedeutendsten Erkenntnisse Ihrer Forschung zu Rechtsextremismus in der DDR?
Dr. Waibel: Nach Auswertung von über 2.000 unveröffentlichten Archivmaterialien, sie wurden vorwiegend von der Geheimpolizei (MfS) gesammelt, gab es in der DDR über 725 rassistische Straftaten mit tausenden verletzten Personen und über 10 Personen wurden, zum Teil in Lynchjustiz, getötet. Bei über 200 gewalttätigen Angriffen wurden durch Pogrome und pogromartige Angriffe Personen aus über 30 Ländern verletzt. Pogrom bedeutet in diesem Fall, dass Deutsche in Gruppen, als Angehörige der Mehrheit des Landes, gewalttätige Aktionen gegen Afrikaner, Osteuropäer oder Kubaner durchgeführt haben, die als Ausländer zu einer sehr kleinen Minderheit in der DDR gehörten. Die Angriffe wurden in den allermeisten Fällen von jüngeren Männern durchgeführt und fanden in über 400 Städten und Gemeinden der DDR statt.
Rassistische Angriffe auf Wohnheime für Ausländer gab es in der DDR von 1975 bis 1990 und sie sind auch ein Ausdruck einer Besonderheit. In der BRD gab es bis 1990 keinen rassistischen Angriff eines Mobs auf Wohnungen von Ausländern. In der DDR belege ich insgesamt über 40 Angriffe auf Wohnheime. Der Beginn dieser Form des rassistischen Angriffs war in Erfurt am 13. August 1975. Die Reihe der Angriffe auf Wohnheime endete in der DDR am 26. August 1990 als ein Wohnheim für Mosambikaner in Trebbin (Bezirk Potsdam) von etwa 30 Rassisten angegriffen wurde. Insofern muss auch die Aussage korrigiert werden, dass die Angriffe auf Wohnheime für Ausländer in Hoyerswerda (1991) die ersten Pogrome in Deutschland nach dem II. Weltkrieg gewesen wären.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre waren pro Jahr durchschnittlich einhundert neonazistische oder rassistische Vorfälle in der NVA registriert worden. In verharmlosender Weise wurde behauptet, es würde sich dabei nicht um „ideologische Positionen“ handeln, sondern es wären unkritisch, Tendenzen aus dem feindlichen Westen wiedergegeben worden.
Für die DDR belege ich insgesamt etwa 7.000 neonazistische Propaganda- und Gewalttaten. Neonazis waren, in der Regel, männliche Jugendliche und Jungerwachsene, die sich als Skinheads, Hooligans oder rechte Metal-Fans ab Ende der 1970er Jahre zu einer Bewegung entwickeln konnten. Das Gros der Aktivisten stellten Oberschüler, Lehrlinge, Soldaten oder junge Arbeiter, die sich in ihren Einstellungen, ihrer Kleidung und ihrer Ideologie an der NSDAP, der SS oder der SA orientierten. [1] In Schulen, in der Armee, in Betrieben, in den Fußballstadien und auf Straßen und Plätzen äußerten sie sich neonazistisch, rassistisch und antisemitisch und traten gewalttätig gegen Volkspolizei und Ausländer in Erscheinung.
In allen Bezirken der DDR gab es insgesamt etwa 400 Neonazi-Gruppen, die meisten im Bezirk Berlin (21), gefolgt vom Bezirk Halle (20) und dem Bezirk Karl-Marx-Stadt (15). Zum Teil handelte es sich um uniformierte und bewaffnete Wehrsportgruppen.
900 Straftaten sind antisemitischer Natur, wovon etwa 145 Schändungen jüdische Friedhöfe und Gräber betreffen.
Das erste Ziel der Neonazis war die Auflösung der DDR und sie verstanden sich als Kämpfer für ein wiedervereinigtes Deutschland. Als 1989 eine Volksbewegung („Wir sind das Volk“, „Deutschland einige Vaterland“) auf die Straßen und Plätze kam, die bald die Wiedervereinigung auf ihre Fahne schrieb, gingen die Neonazis, Skinheads und Hooligans in ihr auf.
Flaschenpost: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Missverständnisse und Mythen zu Rechtsextremismus in der DDR?
Dr. Waibel: Dass die DDR, bzw. die deutschen Kommunisten antifaschistisch gewesen seien. Alles was nicht in ihre Ideologie passte wurde in den Archiven abgelagert, ohne die eigene Bevölkerung, oder auch das Ausland davon in Kenntnis zu setzen, dass es in der DDR eine rechte Bewegung gegeben hatte. Es wurde und wird behauptet, dass der Westen (Medien, Politik) ab 1990 verantwortlich dafür wäre, wie sich in den neuen Bundesländern die gegenwärtige Lage darstellt.
Flaschenpost: Welchen Einfluss kann Ihre Forschung auf den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs haben?
Dr. Waibel: Als erstes die Erkenntnis, dass die Wurzel für die aktuelle Situation historisch bedingt ist. Als zweites, dass rechte Kontinuitäten in beiden deutschen Staaten existierten und nicht konsequent bekämpft wurden (gescheiterte Entnazifizierung). Der aktuelle gesellschaftliche Diskurs zeichnet sich, seit 1990, dadurch aus, dass die Wahrnehmung von Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus in der DDR, verweigert wurde und wird.
Flaschenpost: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die DDR-Vergangenheit im aktuellen rechtsextremen Diskurs in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland?
Dr. Waibel: Der Zusammenhang zwischen der Rechtsentwicklung in der DDR und dem Erstarken der rechten Bewegung im vereinten Deutschland ist evident. Die rassistischen Pogrome 1991 in Hoyerswerda und 1992 in Rostock-Lichtenhagen bildeten die Zündfunken, die von Rechten in der Bundesrepublik genutzt wurden, um ebenfalls Brandanschläge auf Wohnhäuser von Migranten durchzuführen, wie z. B. in Solingen oder Lübeck usw. usf.
Flaschenpost: Wie hat sich Ihrer Meinung nach der Rechtsextremismus in Deutschland von der Nachkriegszeit bis heute entwickelt?
Dr. Waibel: Seit 1990 hat sich eine rechte Bewegung zusammengefunden, die sich aus den beiden rechten Bewegungen in der DDR und der Bundesrepublik konstituiert hat. Nach offiziellen Zahlen des Bundesministeriums des Innern haben insgesamt über 500.000 rechte Straftaten stattgefunden. Dabei sind rund 400 Tote und tausende Verletzte zu beklagen. Über 3.000 gewalttätige Angriffe auf Heime und Häuser haben stattgefunden, in denen MigrantInnen wohnten. Männer und männliche Jugendliche in den neuen Bundesländern sind daran überproportional, gemessen an der Zahl der jeweiligen Bevölkerung, als Täter beteiligt und ähnliches gilt auch für die westlichen und östlichen Berliner Bezirke, wo, proportional gesehen, eine zwei- bis dreifach höhere Anzahl neonazistischer, rassistischer oder antisemitischer Straftaten zu verzeichnen ist.
Wie dramatisch sich die politische Situation in Deutschland gegenwärtig darstellt, zeigt eine neue demoskopische Untersuchung von Oliver Decker von der Universität Leipzig: danach sind etwa 40 Prozent der befragten Deutschen bereit, ein autoritäres System zu unterstützen. Fast jeder Zweite im Osten und knapp jeder Dritte im Westen stimmte der Aussage zu, Deutschland sei im gefährlichen Maße „überfremdet“. [2]
Seit den neuesten demoskopischen Umfragen ist die AfD in Deutschland mit 21 Prozent, vor der SPD, zur zweitstärksten Partei geworden: In Thüringen 34 Prozent, in Sachsen 32,5 Prozent, in Sachsen-Anhalt 29 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 29 Prozent und in Brandenburg 23 Prozent.
Flaschenpost: Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, um den aktuellen Anstieg von Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland zu bekämpfen?
Dr. Waibel: Seit Anfang dieses Jahres entwickelte sich eine breite Bewegung in Städten und Gemeinden, die sich gegen die Rechte stellt. Dass ist eine für Deutschland völlig neue Entwicklung, die es weder in der Weimarer Republik noch in der Bundesrepublik gegeben hatte. Doch es braucht mehr um die rechte Bewegung zu stoppen und sie zu reduzieren auf eine ungefährliche Größe, d. h. es braucht eine Verzahnung der gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte zur Abwehr der rechten Gefahr.
Flaschenpost: Vielen Dank für das Interview und für Ihre Zeit.
[1]: BStU, MfS, Arbeitsbereich Mittig Nr. 53, Bl. 11ff.; Bericht über die Verwirklichung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 2.2.1988 „Maßnahmen der FDJ zur Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit mit allen Jugendlichen“ (Beschluß des Sekretariats des Zentralrates der FDJ vom 6.9.1989, Anlage 1: Übersicht über Skinheads, Sympathisanten und ihre Gruppierungen nach Bezirken (Kopie im Besitz von HW)
[2]: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-11/autoritarismus-rechtsextremismus-antisemitismus-deutschland-ost-west-studie-uni-leipzig/komplettansicht?print
Redaktionsmitglied Julian Häffner
Ich bin 20 Jahre alt und seit 2019 Mitglied der Piratenpartei. Ich studiere aktuell Lehramt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem bin ich Vorsitzender im Kreisverband Nürnberger Land & Roth und stellvertretender Vorsitzender des Bezirksverbandes Mittelfranken der Piratenpartei. Seit 2021 bin ich zudem Mitglied der Redaktion der Flaschenpost.
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