Der Kampf für Gerechtigkeit, sei es soziale, Klima- oder Generationengerechtigkeit, ist ein nobles und erstrebenswertes Unterfangen, doch oft stellt sich die Frage, ob er alle Mittel rechtfertigt. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum – vor allem unter Aktivsten, aber auch Politikern – dass das Streben nach einem gerechten Ziel den Einsatz ungerechter Mittel erfordert.
Im folgenden möchte ich euch anhand von fünf Abschnitten darlegen, warum der Kampf für Gerechtigkeit keine Rechtfertigung für Ungerechtigkeit sein kann und diesen quasi immer ins Gegenteil verkehrt. Konkrete historische und aktuelle Beispiele, in denen die Anwendung ungerechter Mittel im Namen der Gerechtigkeit zu Diktaturen geführt hat, behandle ich in einem weiteren Abschnitt.
I. Moralische Integrität und Konsequenz
Die moralische Integrität eines Kampfes für Gerechtigkeit ist grundlegend für die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Anliegens. Ein zentrales Argument gegen den Einsatz ungerechter Mittel ist die Notwendigkeit, moralisch konsequent zu bleiben. Wenn diejenigen, die für Gerechtigkeit kämpfen, selbst ungerechte Mittel einsetzen, untergraben sie die Prinzipien, die sie zu verteidigen vorgeben.
Immanuel Kant war der festen Ansicht, das Ethik, dass moralische Handlungen universalisierbar sein müssen, d.h. sie müssen in jedem Kontext als richtig angesehen werden können. Eine Handlung, die an sich ungerecht ist, kann demnach nicht als gerecht gerechtfertigt werden, auch wenn das Ziel gerecht ist. Und sowohl Albert Schweitzer (die Mittel, die man einsetzt, bestimmen die Qualität und den Charakter des erreichten Ziels) als auch Gandhi Mittel (die moralischen Methoden sind entscheidend, um das gewünschte Ziel der Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen) sahen das so
Ein praktisches Beispiel ist der Kampf gegen politische Gegner. Wenn eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit Gewalt und Repression gegen Andersdenkende einsetzt, verliert sie nicht nur ihre moralische Integrität, sondern sie riskiert auch, die gleichen Muster von Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu reproduzieren, gegen die sie ursprünglich gekämpft hat. Viele gewaltsame Machtübernahmen in Diktaturen führten wieder zu Diktaturen, beispielsweise in Kuba.
II. Die Gefahr der Gewalteskalation
Ein weiteres Argument gegen die Anwendung ungerechter Mittel im Kampf für Gerechtigkeit ist die Gefahr der Eskalation. Gewalt erzeugt meist Gegengewalt und ungerechte Handlungen setzen einen Kreislauf von Gewalt und Rache in Gang, der die ursprünglichen Ziele des Kampfes zunichte macht.
Howard Zinn unterstreicht in seinen Schriften, dass gewaltsame Mittel in sozialen Bewegungen oft zu einer Eskalation der Gewalt führen, was letztlich die Chancen auf einen friedlichen und gerechten Ausgang verringert. Mahatma Gandhi argumentierte, dass gewaltfreie Mittel die einzig nachhaltige Methode seien, um tatsächliche Gerechtigkeit zu erreichen, da sie den Kreislauf der Gewalt durchbrechen.
Ein anschauliches Beispiel ist der Algerienkrieg (1954-1962), in dem die algerische Befreiungsfront (FLN) sowohl gegen die französische Kolonialmacht als auch gegen algerische Zivilisten, die sie als Kollaborateure betrachtete, vorging. Der Einsatz von Terror und Gewalt führte zu massiven Gegenschlägen und einem brutalen Krieg, der weit mehr Leid und Unrecht verursachte als die ursprüngliche Kolonialherrschaft.
III. Legitimations- und Vertrauensverlust
Die Anwendung ungerechter Mittel führt dazu, dass die Gerechtigkeitsbewegung das Vertrauen und die Unterstützung der Öffentlichkeit verliert. Die Legitimität jeder sozialen Bewegung hängt in hohem Maße von der öffentlichen Wahrnehmung ab. Wenn unethische Mittel eingesetzt werden, wird die Bewegung als heuchlerisch und unzuverlässig wahrgenommen.
Der Soziologe Max Weber untersuchte die Rolle der Legitimität im Herrschaftsgefüge und argumentierte, dass Herrschaft nur dann stabil ist, wenn sie als legitim angesehen wird. Und John Rawls, ein bedeutender politischer Philosoph, betonte in seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, dass Gerechtigkeit als Fairness verstanden werden muss, und dies schließt die Ablehnung ungerechter Mittel ein.
Beispiel: Die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland verlor nach anfänglicher Unterstützung durch Teile der Bevölkerung schnell an Rückhalt, als ihre Methoden immer gewalttätiger und exzessiver wurden. Entführungen, Morde und Terroranschläge isolierten die Bewegung und führten schließlich zu ihrem Niedergang, da sie die Unterstützung in der Bevölkerung verlor.
IV: Langfristige Folgen für die Gesellschaft
Wie man sehr gut an postkommunistischen und postfaschistischen Gesellschaften erkennen kann, führt der Einsatz von ungerechten Mitteln und Methoden vor und nach der Machtergreifung zu langfristigen negativen Folgen für die Gesellschaft, die weit über das unmittelbare Ziel hinausgehen. Die Einführung von Ungerechtigkeit in die Strukturen einer Gesellschaft bewirkt tiefgreifende und dauerhafte Schäden und bereitet den Boden für demokratiefeindliche Einstellungen, die durch Parteien mit antidemokratischen Zielen aufgegriffen werden.
Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington (ja, ich weiß, Huntington … ) diskutierte in „Political Order in Changing Societies“ die langfristigen Folgen von Instabilität und Gewalt für die politische Entwicklung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und Hannah Arendt betont in „Über die Revolution“, dass Revolutionen, die mit Gewalt und Ungerechtigkeit einhergehen, oft neue Formen der Unterdrückung hervorbringen – Beispiele hierfür finden sich weiter unten.
Zum Beispiel führte in der Französischen Revolution die Anwendung von Gewalt und Terror durch die Jakobiner während ihrer Schreckensherrschaft zu einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens, die die Gesellschaft tief spaltete und langfristig die Grundlage für autoritäre Regime wie das von Napoleon Bonaparte legte.
V. Ethische Verpflichtung zu den Menschenrechten
Das fünfte und auch wichtigste Argument ist die ethische Verpflichtung, grundlegende Menschenrechte zu achten und zu schützen. Auch im Kampf für Gerechtigkeit dürfen die Rechte des Einzelnen nicht verletzt werden – auch nicht in Haftanstalten. Der Völkerrechtler Michael Ignatieff argumentiert, dass die Einhaltung der Menschenrechte eine universelle Verpflichtung darstellt, die über alle politischen und sozialen Ziele hinausgeht. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Historische und aktuelle Beispiele für Unrecht beim Kampf um Gerechtigkeit und seine Folgen
Rechtsgerichtete Diktaturen
In rechten Diktaturen, wie dem faschistischen Italien unter Mussolini oder dem nationalsozialistischen Deutschland unter Hitler, diente das Konzept der „nationalen Gerechtigkeit“ als Rechtfertigung für brutale Unterdrückung und Massenmord. Das nationalsozialistische Regime verübte einige der schlimmsten Gräueltaten der Geschichte, einschließlich des Holocaust, im Namen einer vermeintlichen rassischen und nationalen Gerechtigkeit. Dieses Beispiel zeigt, wie die Anwendung extrem ungerechter Mittel im Namen der „nationalen Gerechtigkeit“ zu beispiellosen Verbrechen und zur Errichtung totalitärer Regime geführt hat.
Linksgerichtete Diktaturen
In linken Diktaturen, wie der Sowjetunion unter Stalin, fielen unzählige Menschen im Namen der „sozialistischen Gerechtigkeit“ politischen Säuberungen, Zwangsarbeit und Massenhinrichtungen zum Opfer. Die stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre, die darauf abzielten, politische Gegner auszuschalten, schufen eine Atmosphäre der Angst und des Verdachts und kosteten Millionen Menschen das Leben. Trotz der propagierten Ziele sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit führte die Anwendung extremer und ungerechter Mittel zu einem autoritären Regime und massiver Unterdrückung – Bürger der DDR konnten diese am eigene Leib erfahren.
Theokratische Diktaturen
In theokratischen Diktaturen, wie im Iran nach der islamischen Revolution 1979, wurden im Namen der „religiösen Gerechtigkeit“ unzählige Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Einführung der Scharia als Rechtsgrundlage führte zur systematischen Diskriminierung von Frauen, religiösen Minderheiten und politischen Gegnern. Der Einsatz ungerechter Mittel wie öffentlicher Hinrichtungen und Folter zur Durchsetzung religiöser Gesetze hat die Gesellschaft tief gespalten und zu weitreichender Unterdrückung geführt.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verwendung ungerechter Mittel im Kampf um Gerechtigkeit die Prinzipien der Gerechtigkeit selbst aushebelt, zu Eskalation und Gewalt führt, das Vertrauen der Öffentlichkeit zerstört, langfristige negative soziale Folgen nach sich zieht und fundamentale Menschenrechte verletzt. Und wie eine Gesellschaft nach einem Umsturz, der ungerechte Mittel verwendete, aussieht dürfte jedem klar sein.
Historische und aktuelle Beispiele von Diktaturen, die aus Bewegungen für „Gerechtigkeit“ entstanden, zeigen uns, dass die Anwendung ungerechter Mittel mehr Schaden als Nutzen anrichtet und immer in brutalen und unterdrückerischen Regimen endet. Ein wirklich gerechter Kampf muss daher immer auch die eingesetzten Mittel sorgfältig und ethisch reflektieren.
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂
Wokis lieben das „Virtue Signalling“ allen zu zeigen was für gute Menschen die sind. Beim Einsatz für LGBTQ oder für Free Palestine oder das Weltklima.
Wer den Machtanspruch des guten infrage stellt kann ja nur ein Böser Menschen sein der bekämpft werden muss. Mit allen Mitteln. Kann nix gutes bei rumkommen.
Das wirklich authentisch gute bleibt im Kulturkampf auf der Strecke. Das gute ist nur dann gut wenn es nicht als Mittel zum Zweck der Machgewinnung missbraucht wird.