Dies ist ein Gastartikel von Katharina aus dem Team des TwitterX-Account Ukrainiki-UA
Wo sind all die ukrainischen Schriftsteller:innen?
Wenn ich Ihnen die folgende Aufgabe stellen würde: „Nennen Sie mir drei russische Schriftsteller!“, welche würden Ihnen auf Anhieb einfallen? Dostojewski, Tolstoi, Pasternak? Nicht schwer, nicht wahr? Egal, ob „Krieg oder Frieden“ oder „Doktor Schiwago“ – russische Werke sind weltberühmt und prägten die Literaturgeschichte. Und wenn ich Ihnen nun die Aufgabe stelle: “Nennen Sie mir drei ukrainische Schriftsteller?“ Wer fällt Ihnen ein? Ein Name? Zwei? Oder gar niemand? Doch woran liegt das? Es gibt doch ukrainische Schriftsteller:innen, oder? Wieso kennt man sie dann hierzulande nicht? Wo sind die berühmten Werke aus der Feder ukrainischer Autor:innen? Die Antworten auf diese Fragen sind so einfach wie schmerzhaft:
Das Zarenreich und die Sowjetunion ermordeten systematisch ukrainische Intellektuelle.
Die historische Verfolgung ukrainischer Schriftsteller:innen ist der Grund, warum wir sie in Deutschland nicht wirklich kennen und das Feld „ukrainische Literatur“ im allgemeinen Bewusstsein eher eine Leerstelle bildet. Doch was ist überhaupt die hingerichtete Renaissance? Als „Hingerichtete Renaissance“ wird die Generation ukrainischer Autor:innen bezeichnet, die von Stalin und seinen Schergen unterdrückt und schlussendlich hingerichtet wurde oder sich im Zuge der andauernden Repressionen das Leben nahm (Die hingerichtete Renaissance und Stalins Kampf gegen die ukrainische Intelligenzija, ukraineverstehen.de). Die ukrainische kulturelle Elite galt als zu freidenkerisch, nicht sowjetisch genug, als Bedrohung. Die ukrainischen Schriftsteller:innen waren nicht die einzigen, die zum Ziel von Stalins Repression und Terror wurden, jedoch standen sie weit oben auf der Liste („Erschossene Renaissance“: wie Stalin unter ukrainischen Künstlern wütete, nzz.ch).
Gehen wir einen Schritt zurück in der Geschichte
Im Zarenreich, noch vor Stalins Zeit, galt die ukrainische Sprache als „durch polnische Einflüsse verdorbener russischer Dialekt“ und war verboten. Taras Shevchenko, der heute als Begründer der modernen ukrainischen Literatur gilt, wurde deswegen verhaftet und ins Exil verbannt, wo er starb, ohne seine Heimat noch einmal wiedergesehen zu haben (Ukraine’s Executed Renaissance and a kickstarter for one of its modern successors euromaidanpress.com).
Die junge Sowjetunion inszenierte sich zunächst als Gegenstück zu der restriktiven Romanow-Monarchie. Lenin selbst positionierte sich gegen den als schlecht empfundenen großrussischen Nationalismus und förderte die „guten“, „kleinen“ Nationalismen. Die Ukraine erhielt ihre eigene Sowjetrepublik, deren führende Positionen von Ukrainer:innen besetzt wurden. Ukrainische Schriftsteller:innen durften in ihrer eigenen Sprache schreiben. Die ukrainische Literatur erlebte in den 1920er-Jahren eine Blütezeit. Nach der Unterdrückung der ukrainischen Sprache in der Zarenzeit glich die Entwicklung der ukrainischen Literatur einem regelrechten kreativen Vulkan. Doch als Stalin an die Macht kam, änderte sich die Situation wieder zum Schlechteren. Stalin verfolgte ukrainische Schriftsteller:inen und Intellektuelle und ging mit Verhaftungen und willkürlichen Verurteilungen gegen die Kulturschaffenden vor. Doch warum? Um das nationale Bewusstsein der Ukrainer:innen und die ukrainische Bevölkerung zu brechen. Es ist der gleiche Grund wie für den Holodomor, die von Stalin befohlene Hungersnot, bei der vier bis sieben Millionen Menschen starben.
Schauen wir uns einen Abend während des Holodomors, den 13. Mai 1933, an: Mykola Chwylowyi, einer der wichtigsten ukrainischen Schriftsteller:innen seiner Zeit, lädt an jenem 13. Mai seine Autorenkollegen Mykola Kulisch und Oles Dosvitny in sein Appartement ein. Gemeinsam wollen die Männer die Verhaftung ihres Kollegen und Freundes, Mykhajlo Jalowy, diskutieren. Sie sprechen über die repressiv auftretende Sowjetmacht, ihre Ängste, ihre Wut, darüber, dass sie „nicht sowjetisch genug“ sind. Und was das bedeutet. Womöglich kommen sie auf Chwylowyis Reise in die Oblast Poltawa und seine Eindrücke von dort zu sprechen, womöglich denkt er nur daran: an die Verhungerten auf den Straßen, deren Leichen tagelang liegen bleiben, bis jemand die Kraft hat, sie wegzubringen. Was fühlt Chwylowyi in diesem Moment? Wir wissen es nicht. Wut, Trauer, Machtlosigkeit? Über den Holodomor, über die Verhaftung der ukrainischen Intelligenzija. Aber seine Gefühle brachten ihn schließlich dazu, sich in ein Nebenzimmer zurückzuziehen. Dort schreibt er eine kurze Notiz auf einen Zettel. Dann erschießt er sich. Seine letzten Worte: „Jalowyis Verhaftung ist die Hinrichtung der gesamten Generation“. Damit sollte er Recht behalten: Nach seinem Suizid wurden die meisten seiner Schriftstellerkolleg:innen, darunter auch Mykola Kulisch und Oles Dosvitny, verhaftet. Viele von ihnen kamen 1937 im Gulag ums Leben.
Chwylowyj wohnte zum Zeitpunkt seines Selbstmordes im Haus „Slovo“ (Wort), das 1930 erbaut wurde und das Zuhause vieler ukrainischer Schriftsteller:innen war. Die Bewohner von 40 der insgesamt 66 Appartements des Hauses Slovo fielen den Repressionen Stalins zum Opfer. Die meisten ukrainischen Avantgarde-Schriftsteller:innen wurden verhaftet und zunächst in das Straflager auf den Solowki – Inseln im Weißen Meer deportiert. Dort erging im Sommer 1937 der Befehl an die Lagerleitung, das Gefängnis von seinen „1200 gefährlichsten Elementen zu entlasten“. Die Gefangenen wurden ohne ihr Wissen in Schnellverfahren zum Tode verurteilt und per Genickschuss hingerichtet. So wurden am 3. November 1937 viele ukrainische Kulturschaffende ermordet, unter anderem auch die berühmten Autoren Mykola Serow und Mykola Kulisch.
Überflüssig zu erwähnen, dass die Werke der hingerichteten Autoren, wie auch die ukrainische Literatur generell, nach 1937 aus Bibliotheken und Buchläden entfernt wurde. Ein formelles Verbot der ukrainischen Sprache an sich war damit hinfällig geworden („Die Wiederholung der Tragödie“).
Schriftsteller:innen sind Chronist:innen. Sie bilden die Lebensrealitäten und Themen ihrer Zeit ab – und am wichtigsten: sie üben Kritik. Daher ist Literatur immer in hohem Maße politisch und ein wichtiger Bestandteil der (kulturellen) Identität eines Volkes. Die gezielte Ermordung der ukrainischen Intelligenzija zielte darauf ab, das ukrainische Nationalbewusstsein auszulöschen. Durchaus mit Erfolg. Abertausende ukrainische Werke wurden niemals geschriebene, bereits geschriebene vernichtet und die Namen der ermordeten Schriftsteller:innen verschwanden aus dem öffentlichen Bewusstsein. Auch aus unserem westlichen. Und so kennen wir Dostojewski, Tolstoi und Pasternak, aber nicht Chwylowyi, Serow oder Jalowy.
Und jetzt passiert es erneut
Russland ermordet ukrainische Intellektuelle und Künstler:innen, zerstört ukrainische Bücher und verbietet die ukrainische Sprache in den temporär besetzten Gebieten der Ukraine. Es ist eine Wiederholung der Geschichte. Und sie hat nur einen Zweck: Die Auslöschung der ukrainischen Identität.
Quellen:
- Erschossene Renaissance: Wie Stalin unter ukrainischen Künstlern wütete (nzz.ch) letzter Abruf 23.08.2024
- Die hingerichtete Renaissance und Stalins Kampf gegen die ukrainische Intelligenzija (ukraineverstehen.de) letzter Abruf 23.08.2024
- Die Wiederholung der Tragödie (jungle world) letzter Abruf 23.08.2024
- Ukraine’s Executed Renaissance and a kickstarter for one of its modern successors – Euromaidan Press letzter Abruf 23.08.2024
- A murdered writer, his secret diary of the invasion of Ukraine letzter Abruf 28.08.2024
- Gestorben: Maksym Krywzow, 33 letzter Abruf 28.08.2024
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂