Die Physikerin Heidrun Jänchen, 58, ist Spitzenkandidatin und Listenplatz 1 der Piraten Thüringen zur Landtagswahl am 01.09.2024 und Stadträtin in Jena.
Flaschenpost: Sie sind Physiker. Wie kommt man von dort aus in die Politik?
Heidrun Jänchen: Indem man sich so sehr über etwas aufregt, dass man sich an die Spitze einer Bürgerinitiative stellt, herausfindet, was ein Einwohnerantrag ist, Flugblätter schreibt und zu Tausenden verteilt, auf Podiumsdiskussionen die Stadtpolitik herausfordert … Wir hatten Erfolg und haben ein ausgesprochen langweiliges und überflüssiges Einkaufszentrum verhindert und eine Grünanlage gerettet. Danach war klar: Dieser Sieg muss im Stadtrat verteidigt werden.
Flaschenpost: Wieso haben Sie entschieden, der Piratenpartei beizutreten?
Heidrun Jänchen: Als Bürgerinitiative braucht man jeden Verbündeten. Die Piraten waren einfach immer da und für jede Aktion zu haben. Irgendwann hat einer gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, für sie für den Stadtrat zu kandidieren. Das hat mich zunächst überfahren, aber ich konnte es mir tatsächlich vorstellen. Bürgerbeteiligung, Transparenz und soziale Politik sind mein Ding – das passte perfekt. Als Physiker kann ich gut mit Zahlen, was in einigen anderen Parteien eher hinderlich ist.
Flaschenpost: Sie saßen bis 2019 für die Piratenpartei im Stadtrat von Jena. Wann haben Sie für sich beschlossen, es mit der Landespolitik zu versuchen und dann auch gleich als Spitzenkandidatin?
Heidrun Jänchen: Aus Anlass des Thüringer Paritätsgesetzes. Die Piraten sind nicht gerade eine weibliche Partei. Von kleinen Parteien eine paritätisch besetzte Liste zu verlangen, ist undemokratisch – was auch das Verfassungsgericht so gesehen hat. Als das Gesetz verabschiedet wurde, habe ich mir gesagt: Jetzt musst du. Dass ich auf Platz 1 gelandet bin, haben die Thüringer Piraten entschieden. Frauenfeindlich sind sie ganz und gar nicht. Absurderweise hätte ich mit Paritätsgesetz auf Platz 2 kandidieren müssen, um eine längere Liste zu ermöglichen.
Flaschenpost: Was würden Sie sagen, sind ihre Kernthemen für die Landtagswahl und welche Ziele sind Ihnen besonders wichtig?
Heidrun Jänchen: Nach sechs Wochen Beschallung mit Wahlkampf-Floskeln gibt es da nur eins: Die absolute Mehrheit erreichen und Ministerpräsidentin werden. Dann gehen wir die typischen Piratenthemen an: mehr direkte Demokratie, mehr Transparenz, mehr Digitalisierung. Schnelles Internet haben 14 % der Thüringer Haushalte. Dabei wäre das besonders für die ländlichen Gegenden abseits der A4 wichtig. Viele Arbeiten kann man von überall aus machen – man muss nicht in einer Firma in den Großstädten sitzen. Die platzen aus allen Nähten. Da brauchen wir ein Programm für kommunalen Wohnungsbau, weil der klassische soziale Wohnungsbau das Problem immer nur 20 Jahre in die Zukunft verschiebt. Dann fällt der geförderte Wohnraum aus der Belegungsbindung, wird saniert und teuer neu vermietet.
Wichtig ist uns allen die Bildung. Wenn Naturwissenschaften wegen Lehrermangel nur sporadisch unterrichtet werden, dann verbaut das Chancen fürs Leben. Und wenn man zu wenige Lehrer hat, dann muss man sie effektiv einsetzen. In Thüringen leisten wir uns zum Beispiel viel zu viel Religionsunterricht, aber Technik kommt zu kurz.
Flaschenpost: Wie nehmen Sie das politische Klima aktuell im Wahlkampf wahr?
Heidrun Jänchen: Jeder erzählt dem Wähler, die Demokratie könnte man nur mit einem Kreuz bei seiner Partei retten. Kleiner geht es nicht. Das ist diesmal die ganz große Materialschlacht, und es wird viel mit Dreck geworfen. Die CDU hat zum Beispiel sich darauf verlegt, reihum alle anderen verächtlich zu machen. Die Grünen, die bei jeder Wahl argumentieren, eine Stimme für kleine Parteien sei eine verlorene Stimme, sind plötzlich überzeugt, man müsste unbedingt ihre Drei-Prozent-Partei wählen. Das ist eigentlich absurdes Theater. Es fällt auf, dass sich die Bundespolitik auf allen Seiten stark einmischt. Unternehmerverbände und Gewerkschaften melden sich zu Wort, interessanterweise mit ganz ähnlichen Botschaften. Wir sind gerade der Mittelpunkt Deutschlands – nicht nur geografisch.
Flaschenpost: Die AfD droht bei der Landtagswahl zum ersten Mal stärkste Kraft zu werden und das ausgerechnet in dem Bundesland, in dem eines ihrer radikalsten Mitglieder Landesvorsitzender ist. Was, denken Sie, bewegt die Menschen dazu, die AfD zu wählen, und wie könnte man diese Leute eventuell wieder abholen? Wie könnte man Ihrer Meinung nach den Vormarsch der AfD bremsen?
Heidrun Jänchen: Wir mussten im Kindergarten nebeneinander auf dem Töpfchen sitzen und bekamen in der DDR zu wenig Demokratie ab. Diese allgemein anerkannte Theorie hat allerdings zwei Schwachpunkte: Warum wählen gerade junge Leute AfD? Und wie erklärt man den Erfolg der AfD in Gelsenkirchen oder der “Bürger in Wut” in Bremerhaven?
Es sind ökonomisch abgehängte Regionen mit prekären Lebensverhältnissen, in denen die Rechten Erfolg haben. Der durchschnittliche Thüringer verdient – bei längerer Arbeitszeit – 700 Euro weniger als der durchschnittliche Gesamtdeutsche. Dazu kommt, dass die Leute im Osten sich seit 34 Jahren für ihr Leben rechtfertigen müssen. Dann kommt eine Partei daher und sagt: Ihr seid gute Deutsche, ihr seid wichtig, und ihr seid die Spitze der Bewegung. Jeder Dritte ist bereit, das zu glauben. Zwei Drittel jedoch nicht, und über die wird viel zu wenig geredet.
Wir brauchen nicht noch mehr Spezialisten, die uns unser Demokratiedefizit erklären. Wir brauchen eine Strukturpolitik, die den abgehängten Regionen eine wirtschaftliche Zukunft gibt, nicht nur Autobahnen, auf denen man sie möglichst schnell durchqueren kann. Bei der Stadtratswahl in Jena landete die AfD mit 13,4 % der Stimmen auf Platz 4. Die Stadt hat die gleiche DDR-Geschichte wie das gesamte Thüringen. Sie hatte nur unwahrscheinlich viel Glück und hat heute eine florierende Industrie, Forschungsinstitute, Universität und eine soziale Infrastruktur.
Flaschenpost: Was nehmen Sie als die größten Sorgen der Menschen wahr und was ist den Leuten bei der Wahl besonders wichtig?
Heidrun Jänchen: Die Inflation belastet die Haushalte sehr stark. Jeder fünfte Berufstätige in Thüringen profitierte von der letzten Erhöhung des Mindestlohnes, berichtete das Statistische Landesamt. Das heißt, diese Menschen haben kaum ökonomischen Spielraum. Wenn Lebensmittel- und Energiepreise rasant steigen, geht es nicht um ein bisschen weniger Luxus, sondern schnell um die Frage: Frieren oder hungern? Die Menschen machen sich wirklich Sorgen um die Zukunft.
Für viele Menschen in Thüringen ist eine aktive Friedenspolitik wichtig. Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen. Die in Deutschland stationierten US-Raketen waren auf meine Heimat gerichtet. Ich habe, obwohl ich 20 Jahre nach dem Krieg geboren bin, als Kind in Dresden noch zerbombte Straßenzüge gesehen. Das vergisst man nicht. Frieden, auch unter widrigsten Umständen, ist wahrscheinlich der wichtigste Wert, den die Älteren aus der DDR mitgenommen haben. Die Leute haben immer gesagt: “Lieber ein Leben lang trocken Brot essen, als noch einmal Krieg.” Der Erfolg des BSW im Osten beruht darauf, genau wie die relative Stärke der CDU in Sachsen. AfD und Werte-Union versuchen, dieses Thema zu übernehmen. Wir müssen aufhören, Menschen zu beschimpfen, weil sie mehr Diplomatie fordern. Den Kalten Krieg haben wir nur überlebt, weil Todfeinde miteinander geredet haben.
Tatsächlich machen sich viele Menschen Sorgen, dass die AfD an einer Regierung beteiligt werden könnte. Die Leute haben Angst, dass Industrie abwandern könnte, dass irrationale Politik das Land ruinieren könnte und auch, dass Randgruppen drangsaliert oder im Extremfall abgeschoben würden. Das stockkonservative Familienbild der AfD ist für Frauen eine handfeste Drohung. Die meisten haben bei dieser Wahl kein gutes Gefühl.
Flaschenpost: Vielen Dank für das Interview.
Redaktionsmitglied Julian Häffner
Ich bin 20 Jahre alt und seit 2019 Mitglied der Piratenpartei. Ich studiere aktuell Lehramt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem bin ich Vorsitzender im Kreisverband Nürnberger Land & Roth und stellvertretender Vorsitzender des Bezirksverbandes Mittelfranken der Piratenpartei. Seit 2021 bin ich zudem Mitglied der Redaktion der Flaschenpost.
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