Immer wieder, zuletzt in Fürth (Bayern), schaffte es die Nazi-Partei AfD, die herkömmlichen Parteien vorzuführen indem Sie – fast immer von den anderen ungewollt – als Mehrheitsbeschaffer aktiv wird. Danach ist der Aufschrei in Zivilgesellschaft und Presse immer groß, man echauffiert sich – und das braune Pack lacht sich ins Fäustchen.
Die Brandmauer, so es sie denn gab, steht auch nicht mehr, und das dem nicht so ist liegt nicht nur an der Unfähigkeit des herkömmlichen Parteipersonals. Oder deren Heuchlerei oder Naivität. Nein, es liegt – aus meiner Sicht – daran, das eine grundlegende demokratische Gepflogenheit seit Jahrzehnten außer Acht gelassen wird.
Freie Mandatsausübung, die
Es ist üblich geworden, Abstimmungen nur noch offen abzuhalten anstatt geheim abzustimmen. Dies schränkt rein rechtlich gesehen die Ausübung eines freien Mandats nicht ein, jedoch erkennen Fraktionsspitze und „Parteifreunde“ sofort wenn jemand eine „abweichende“ Meinung hat. Das große Bedürfnis, nicht nur Teil einer Gruppe zu sein sondern auch anerkannt zu werden führt – neben der Sorge, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden – dazu, das Mandatstragende de facto nicht mehr frei sind so abzustimmen, wie es ihr Gewissen oder ihr Verstand nahelegt.
In der Folge kontrollieren Partei- oder Fraktionsvorsitzende das Abstimmungsverhalten – und die wirklich kindische Praxis, nur eigenen Anträgen zuzustimmen, bietet der Nazi-AfD eine Lücke. Denn durch taktisches Zustimmen zu Oppositionsanträgen „zur rechten Zeit“ ist es Ihr möglich, Unfrieden zu stufen – und das unter Nutzbarmachung eines demokratischen Prozesses.
Eine mögliche Lösung
Ich weiß, das werden jetzt Machtmenschen in der Politik nicht mögen, aber wie wäre es mit … #trommelwirbel … #tusch … geheimen Abstimmungen? Ja, ich weiß, wir alle hatten das in der (Grund)Schule, aber trotzdem: Sie bieten den Mandatstragenden Schutz vor Druck und Einflussnahme von Parteiführungen, Lobbygruppen oder Wählern. Sie fördern ihre Unabhängigkeit von parteipolitischen Zwängen – insbesondere bei Gewissensentscheidungen – und verhindern Vergeltungsmaßnahmen. Ein weiteres Argument ist der Erhalt der Objektivität – ohne öffentliche Beobachtung besteht weniger Anreiz, sich populär zu machen oder opportunistisch zu handeln – das fördert direkt eine sachliche Entscheidungsfindung. Ernsthaft!
Das aus meiner Sicht wichtigste Argument ist die Stärkung der Demokratie – geheime Abstimmungen erhöhen das Vertrauen in den demokratischen Prozess, indem sie sicherstellen, dass jede Stimme aus persönlicher Überzeugung abgegeben wird und nicht aus Angst oder Opportunismus. Denn wie man so hört, sind immer mehr Menschen mit der Art und Weise, wie unsere Demokratie von den herkömmlichen Parteien „gelebt“ wird, sehr unzufrieden. Manche sollen sogar aus Verzweiflung Feinde der Demokratie wählen, vor allem solche, deren Programmatik aus dem 19. Jahrhundert stammt.
Nachteile
Der Ausgang eines Antrags kann nicht vorab im Hinterzimmer geplant werden – es wäre also möglich, das „Abweichende“ der „Führung“ eines Auswischen können. Schrecklich, oder? Aber was noch viel schrecklicher zu sein scheint: Die Sitzungen könnten länger dauern. Nein, wirklich, dieses Argument hörte ich schon öfter. Verlängerte Arbeitszeiten, für Politiker – undenkbar! Das würde ja das Narrativ der „faulen“ Diätenschinder widersprechen, und wer will denn sowas!!!
Fazit
Auch wenn es schön wäre, ich befürchte es wird weiterhin keine freie Mandatsausübung geben. Parteiführungen werden nicht freiwillig ihre Macht aufgeben, und jede Person, die eine geheime Abstimmung fordert, gilt als verdächtig abweichend abstimmen zu wollen. Diese Person müsste dann befürchten, Ziel von „Maßnahmen“ zu werden – was dazu führt, das es kaum einer wagen wird. Ein Trauerspiel von dem nur eine Partei profitiert. Und für das Machtmenschen in den herkömmlichen Parteien Verantwortung tragen.
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂
Ja, hinzu kommt ja noch die woke zwingerei durch die winzige Minderheit der Cancel Moralisten. Also dieses das wenn jemand mal aus deren sicht unmoralisch abstimmt dann gleich der Shitstorm losgeht… Die einen fügen sich um zu gefallen. Die Bevölkerung fühlt sich nicht mehr repräsentiert und in dieser Repräsentationslücke kann sich die AfD ausbreiten als extreme Protestpartei.
Namentliche Abstimmungen finde ich wichtig, der Transparenz wegen. Will ja wissen was die Leute die ich Wähle dann tatsächlich machen.
Was wir gerade in der Kommunalpolitik brauchen ist wieder eine Kultur in der Abweichungen von der Norm toleriert werden. Mehr Boris Palmer statt moralinsauere Einheitsbrei Politik. Je mehr Individualisten gefördert werden, desto weniger Raum für autoritäre Strukturen ala AfD ist da. Da kann auch der Wähler ansetzen und gezielt Leute wählen die das repräsentieren.
5% Hürde abschaffen damit mehr Individualisten und kleinere Gruppen in die Parlamente kommen die den woken Einheitsbrei aufmischen können. Dann Minderheiten Regierungen mit wechselnden Mehrheiten wie in der Schweiz. Auch das würde die Macht aller Parteien erheblich mindern + Volksabstimmungen natürlich.
Dann würde es wieder den Wettbewerb am freien Markt der Ideen geben statt Moralistische oder Populistische Gleichschalterei.
Du schriebst „Namentliche Abstimmungen finde ich wichtig, der Transparenz wegen“ – aber eben diese verhindert eine freie Abstimmung und schränkt die Gewissensfreiheit ein. Und du schriebst „Will ja wissen was die Leute die ich Wähle dann tatsächlich machen“ – ja genau, das ist der Grund warum man nicht geheim abstimmt – damit die Fraktions-/Parteiführung Macht über Mandatstragende ausüben kann. So ist das mit der Gewissenfreiheit im Grundgesetz aber nicht gemeint gewesen ….