
Ein Gastkommentar von RA Prof. Dr. Andreas Gran, LL.M.
Wir sollten dringend dem liberalen Staats- und Menschenbild aus dem Imagetief heraushelfen! „Liberalismus“ darf nicht als Synonym für Ellenbogengesellschaft, zügellose Wirtschaft und Steuersenkungen missverstanden werden. Wir leben als Menschen kraft unserer sozialen Kompetenz nicht allein nach dem Motto „struggle for life, survival of the fittest“. Vielmehr macht der kollektive Wille der Bevölkerung zur autonomen Solidarität eine liberale Gesellschaft und Wirtschaft tragfähig.
Das Implodieren der Koalition mit öffentlichem Zuschieben von Verantwortung schadet dem liberalen Gesellschaftsideal immens. Die gute Überzeugung, dass Menschen ohne staatlichen Zwang konstruktiv und solidarisch miteinander auskommen können, verschwindet in unserer Bevölkerung. Der Liberalismus braucht nun ein neues Gesicht, eines, das nicht als destruktiv, egoistisch und unsozial erscheint. Personen, die sich selbstverliebt als „Liberale“ bezeichnen, aber tatsächlich nur von eigenem Macht- und Profitstreben getrieben sind, schaden schlicht dem positiven Idealbild. Eine breite Grundlage in der Bevölkerung wird dadurch nicht erreicht, weil sich die Meisten nicht mitgenommen fühlen.
Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, die denjenigen hilft, die im „Staat“ das Allheilmittel sehen. Nach dem deutschen Alptraum im totalitären Nazi-Regime waren es namhafte Liberale, die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern im Grundgesetz wesentlich prägten, getrieben von dem Misstrauen gegen staatliche Macht, die allzu leicht ausufert. Um die destruktiven Kräfte von Machtentfaltung einzudämmen, braucht es solch politisch Aktive, die Abwehrrechte gegen Bevormundung durchsetzen, wie früher beim sog. großen Lauschangriff, dem Bestreben nach Kontrolle von privater Kommunikation, und aktuell u. a. hinsichtlich der sog. Sicherheitsgesetze mit mehr Machterhalt. Das „Obrigkeitsskeptische“ ist der wichtige Nutzen des Liberalismus gegenüber den anderen beiden politischen Grundkonzepten, dem (linken) Sozialismus und dem (rechten) Konservatismus, die jeweils viel Vertrauen in staatliche Obrigkeit haben, aber leider wenig in die intrinsische Kompetenz der eigenverantwortlichen Bürgerinnen und Bürger. Natürlich sind es aus Sicht Nicht-Liberaler aber immer nur die Anderen, bei denen eingegriffen werden muss.
Die aktuelle Wahrnehmung in der Bevölkerung ist jedoch reduziert auf die liberale Forderung, soziale Umverteilung durch die öffentliche Hand einzudämmen. Genau dies ist aber der Schwachpunkt, denn viele Menschen würden in einer sozial unausgewogenen Gesellschaft leiden. Der daseinsberechtigende Machtkampf in der Evolutionstheorie von Charles Darwin mag im Tierreich gelten, aber wir sind soziale Wesen und empathisch. Anstatt sich für Aufrüstung, Überwachung und Migrationskontrolle – also bereits konservativ besetzte Schwerpunkte – einzubringen, hätten die selbsternannten „Liberalen“ die Chance nutzen sollen, die sozialen Ideale der Koalitionspartner konstruktiv mit freiheitlichen Vorstellungen unter einen Hut zu bringen. Sich gegen Kindergrundsicherung usw. aufzulehnen, hat jedoch nur den Eindruck vermittelt, dass Liberalismus ein Synonym für Elitenförderung sei.
Sinnvolle Vorhaben aus dem Justizministerium, etwa zum Familienrecht und zur sog. Chatkontrolle, traten so in den Hintergrund. Was bleibt, um staatliche Eingriffe zu hinterfragen, sind nun die unterbesetzten und überlasteten Gerichte. Selten war es also für autokratische Machthungrige leichter, die Schwäche vom „real existierenden Liberalismus“ auszunutzen und auf der Stimmungswelle zu mehr Obrigkeit und weniger Autonomie zu surfen. Vielleicht bedarf es erst wieder einer Machtergreifung oder eines Mauerbaus, damit in der Bevölkerung der liberale Nutzen erkannt wird. Damit es nicht erst soweit kommen muss, sollten sich menschenfreundliche Sozialliberale neu positionieren.