Wir möchten euch allen in den kommenden Newslettern Liquid Feedback
näher bringen. Dazu haben wir Simon Weiß interviewt, der am neuen
Bundes-Liquid mitarbeitet.
*- Simon, stell dich doch bitte kurz vor. Wer bist du und was genau hast du mit LQFB zu tun?*
Mein Name ist Simon Weiß, ich bin 25, Mathematiker und Mitglied der
Piratenpartei seit Juli 2009. Was Liquid Feedback angeht, war ich
seit Januar 2010 erst mal nur begeisterter Anwender im LV Berlin:
Danach habe ich angefangen, mich im Berliner LF-Squad zu
beteiligen, insbesondere um die dahinterstehenden Ideen und das
Wissen, um die Benutzung weiterzuverbreiten. Dabei habe ich den
größten Teil einer ausführlichen FAQ zum Berliner LiquidFeedback
geschrieben, die jetzt auch die Grundlage einer FAQ für den
bundesweiten Einsatz sein soll. Außerdem bin ich seit kurzem
angehender Admin auf lqpp.de (dem Server, auf dem die Berliner
Instanz und die der anderen Landesverbände laufen).
*- Erkläre mir LQFB in drei Sätzen.*
Liquid Feedback ist ein System zur demokratischen Erarbeitung von
Beschlüssen. Dabei werden in einem Prozess unter gleichberechtigter
Beteiligung aller verschiedene alternative Anträge zu einem Thema
gesammelt, durch quantifiziertes Feedback verbessert und
schließlich in eine Abstimmung geführt. Liquid Feedback setzt das
Prinzip von „Liquid Democracy“ um, d. h. es erlaubt eine flexible
und themenspezifische Delegation von Stimmen.
*- Es ist also ein Abstimmungstool?*
Dieser Begriff taucht in der Diskussion oft auf. Er ist hier jedoch
etwas irreführend, da die Funktionalität von Liquid Feedback
deutlich über die damit beschriebene hinausgeht. Als ein
Abstimmungstool kann man sich wohl ein System vorstellen, in dem
die Möglichkeit besteht, Abstimmungen zu bestimmten Fragestellungen
zu starten, an denen sich angemeldete Benutzer beteiligen können.
Ein solches System hat jedoch u. a. zwangsläufig den Nachteil, dass
die Art der Fragestellung das Ergebnis beeinflusst – wir erinnern
uns wahrscheinlich alle noch an die beiden Infratest-Dimap-Umfragen
zum Netzsperrengesetz
([http://ak-zensur.de/2009/05/92-prozent-loeschung-statt-sperrung.html](http://ak-zensur.de/2009/05/92-prozent-loeschung-statt-sperrung.html)).
*- Wie genau unterscheidet sich LQFB also davon?*
Der Unterschied liegt darin, dass die abgestimmten Fragen,
insbesondere die Antwortalternativen, nicht von außen oder einem
einzelnen Antragsteller vorgegeben sind, sondern auf demokratische
Weise erarbeitet werden. Liquid Feedback setzt dabei auf einen
Prozess, in dessen Verlauf verschiedene Alternativen zu einem Thema
gesammelt werden, wobei jeder eigene Vorschläge gleichberechtigt
einbringen kann. Um dem ursprünglichen Initiator keine spezielle
Beeinflussungsmöglichkeit zu geben, ist für das Thema selbst dabei
nicht einmal ein Titel vorgegeben – der ergibt sich aus dem Inhalt
der alternativ zueinander eingestellten Vorschläge. Außerdem
erhalten im Laufe dieses Prozesses die Initiatoren einzelner
Vorschläge Anregungen, um ihre Anträge zu verbessern; die
Unterstützer einer Initiative können diese Anregungen bewerten und
somit dem Initiator ein quantifiziertes Feedback geben. Erst am
Ende dieses Prozesses, der im Regelfall einige Wochen oder Monate
andauert, steht eine Abstimmung über die unterschiedlichen
Initiativen. Nicht zuletzt aus diesem zeitaufwändigen Prozess der
Antragsentwicklung motiviert sich auch die Möglichkeit,
Delegationen zu setzen, die ein weiteres wichtiges
Unterscheidungsmerkmal ist.
*- Kann man die Anregungen auch direkt in LQFB diskutieren? Ist eine Form von Kommunikation darüber möglich bzw. vorgesehen?*
Über das System der Anregungen und Initiativen hinaus gibt es
unmittelbar in LF keine Diskussionsmöglichkeiten. Aber natürlich
soll diskutiert werden! In jedem Thema gibt es einen vordefinierten
Link auf eine Diskussionsseite, außerdem können die Initiatoren
eigene Seiten vorgeben, auf denen man mit ihnen diskutieren kann.
Außerdem werden Diskussionen überall stattfinden, wo sie es jetzt
auch schon tun (Mailingslisten, persönliche Gespräche, Telkos,
Twitter etc.)
*- Was genau geschieht mit den Ergebnissen dieser Abstimmungen? Sind sie in irgendeiner Form bindend? Wie und durch wen sollen sie ausgewertet werden?*
Rechtlich bindend sind die Ergebnisse für niemanden. Sie stellen
also erst einmal nur Meinungsbilder dar, an denen man sich in
seinen Entscheidungen orientieren kann. Der Bundesparteitag hat
außerdem beschlossen, LF zur Vorbereitung des nächsten
Programmparteitags im November zu benutzen. Antragsteller sind also
gehalten, ihre Anträge dort einzustellen und Feedback einzuholen;
inwieweit sie dies umsetzen, bleibt ihnen natürlich selbst
überlassen. LF erfüllt dabei also im Wesentlichen die Funktion der
Antragsfabrik. Es ist auch denkbar, dass sich die Reihenfolge der
Anträge in der Tagesordnung an den Abstimmungsergebnissen in LF
orientieren wird. Letztendlich gibt sich der Parteitag seine
Tagesordnung aber selbst, wie ja auch schon in Bingen gegen Ende
eine an den Meinungsbildern der Antragsfabrik orientierte TO
beschlossen wurde.
*- Was gibt es da schon für Erfahrungen, zum Beispiel aus Berlin, die bereits eine Weile mit dem System arbeiten? Wie wirken sich die Abstimmungen aus, lässt sich sagen, ob sie repräsentativ sind? Gibt es große Unterschiede zwischen den Abstimmungsergebnissen in LQFB und auf einem LPT, wenn ein Antrag vom einen ins andere getragen wurde?*
In Berlin wurde bereits eine Mitgliederversammlung im Februar mit
Liquid Feedback vorbereitet (damals noch im Testbetrieb). Die dort
gewonnenen Erfahrungen sind gut: Die Abstimmungen haben sich als
relativ repräsentativ erwiesen, ihre Ergebnisse entsprachen
weitgehend denen in LF. Z. B. wurde die neue Berliner Satzung mit
nur einer einzigen Änderung im Vergleich zu der Version aus LF
beschlossen – und diese Änderung wurde spontan auf der
Mitgliederversammlung vorgeschlagen. Außerdem hat sich
herausgestellt, dass der Prozess, den die Anträge in Liquid
Feedback durchlaufen haben, sehr dazu geeignet ist, sie zu
verbessern, Feedback von allen Seiten einzuholen und
mehrheitsfähige Versionen auszuarbeiten.
*- Wie genau läuft so ein Prozess in LQFB ab?*
Das werde ich am besten an einem konkreten Beispiel
veranschaulichen: Ein Benutzer stellt eine Initiative in LF ein, in
der er sich z. B. für die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns einsetzt. Durch diese Initiative ist gleichzeitig ein
neues Thema entstanden, welches zunächst nur diese Initiative
enthält und sich im Zustand „Neu“ befindet. Sobald diese Initiative
oder eine später alternativ dazu gestellte ein gewisses Quorum an
Unterstützung erreicht, geht das Thema in den Zustand „Diskussion“
über. Passiert das innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne nicht,
wird das Thema abgebrochen. Alle Benutzer haben während dieser
Phasen die Möglichkeit, ihre Unterstützung dieser Initiative zu
bekunden, alternative Initiativen ins Thema einzustellen und zu
unterstützen und Anregungen zu Initiativen zu schreiben und zu
bewerten. Diese Beteiligungsmöglichkeiten vor der letztendlichen
Abstimmung über die verschiedenen Alternativen sind bewusst rein
konstruktiv gestaltet – wer in dieser Vorbereitungszeit eine
Initiative ablehnt, kann nicht einfach reine Ablehnung ausdrücken,
sondern muss Verbesserungen vorschlagen oder Gegenvorschläge
machen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sinnvolles Feedback zur
Verbesserung von Initiativen vor allem von denen ausgeht, die sie
zumindest in veränderter Form unterstützen würden – grundsätzliche
Ablehnung kann am Ende in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht
werden.
*- Was genau sind in diesem Kontext „Anregungen“?*
Anregungen sind konstruktive Verbesserungsvorschläge für
Initiativen. Falls ich zum Beispiel die Initiative zum Mindestlohn
unterstütze, sie mir jedoch nicht konkret genug ist, da sie keine
Aussage über dessen Höhe macht, kann ich eine Anregung schreiben,
die eine solche Angabe fordert, entweder allgemein oder mit einem
Vorschlag über die Höhe. Alle anderen Unterstützer der Initiative
können dann diese Anregung bewerten. Die Bewertung findet auf einem
Spektrum von „darf nicht“ – die Umsetzung der Anregung würde zum
Zurückziehen meiner Unterstützung führen – über „soll nicht“,
„neutral“, „soll“ – die Bewertungen stellen Meinungsbekundungen
dar, haben aber keinen Einfluss auf die Tatsache, dass ich die
Initiative prinzipiell unterstütze – bis zu „muss“: Die Umsetzung
einer so bewerteten Anregung wäre notwendig, damit ich die
Initiative unterstütze. Alle Bewerter haben zudem die Möglichkeit,
individuell anzugeben, ob sie eine bestimmte Anregung im aktuellen
Entwurf der Initiative für umgesetzt halten. Markiert man
Anregungen mit der Bewertung „darf nicht“ als umgesetzt bzw. mit
„muss“ als nicht umgesetzt wird man dann automatisch nur noch als
potenzieller Unterstützer gezählt.
*- Wie kann man als Initiator mit diesen Anregungen umgehen?*
Den Initiatoren von Initiativen ist es freigestellt, welche
Anregungen sie in welchem Umfang umsetzen wollen. Dafür hat jeder
die Möglichkeit, bei nicht umgesetzten Anregungen eine eigene
alternative Initiative zu starten. So könnten im Beispiel mehrere
Initiativen im Thema zusammenkommen, die sich für unterschiedlich
hohe oder auch gar keinen Mindestlohn aussprechen; ein Anhänger
eines bedingungslosen Grundeinkommens, dass in seinen Augen
Mindestlöhne überflüssig machen würde, kann ebenso eine
entsprechende Initiative starten. Wer meint, dass die Piratenpartei
gar keine Position zu sozial- oder wirtschaftspolitischen Themen
einnehmen sollte, kann diese Forderung ebenfalls als alternative
Initiative einbringen: Die einzige Einschränkung der möglichen
Initiativen in einem Thema ergibt sich daraus, dass sich am Ende
nur eine (oder gar keine) von ihnen durchsetzen kann.
*- Wie sinnvoll ist es, thematisch so unterschiedliche Alternativanträge wie im Beispiel zuzulassen?*
Das ist sinnvoll, wenn man nicht dem ersten Initiator die
Möglichkeit geben möchte, das Thema nach Belieben zu definieren und
dabei seine eigene Sicht der Dinge vorauszusetzen. Die Möglichkeit,
beliebige Vorschläge als Alternative einzustellen, ist ja auch auf
einem Parteitag gegeben: Das entscheidende Kriterium ist, dass
immer nur eine Alternative beschlossen werden kann.
*- Wie genau ist das Konzept von Alternativanträgen? In deinem Beispiel besagt eine Initiative, dass die Piraten sich nicht zu sozialpolitischen Themen äußern sollen, eine andere fordert ein BGE, eine andere einen fixen Mindestlohn. Wäre es nicht sinnvoller, die Initiativen nicht als Alternativen sondern für sich einzustellen? Wovon hängt ab, was alternativ zueinander gestellt wird und was nicht?*
Es ist sinnvoll, solche Dinge – wenn sie tatsächlich als
Alternativen gedacht sind – auch ins gleiche Thema einzustellen.
Nur so kann ich als Initiator ja gegebenenfalls verhindern, dass in
einem anderen Thema etwas Entgegengesetztes beschlossen wird. Das
System ist in dieser Hinsicht auch selbstregulierend: Wenn z. B.
eine Initiative, die klar eine Alternative zu einer bereits
eingestellten ist, in einem eigenen Thema gestartet wird, kann man
den Initiator in einer Anregung darauf hinweisen („bitte
zurückziehen und in Thema X neu stellen“); wenn das nicht
erfolgreich ist, kann man dort eine Gegeninitiative starten („kein
Beschluss in diesem Thema, weil es eigentlich zu Thema X gehört“)
usw. Für die Anfechtung bereits abgeschlossener Abstimmungen aus
formalen Gründen wird es den Themenbereich „Streitfragen zu
Abstimmungen“ geben. Letztendlich entscheidet also immer die
Mehrheit, was alternativ zueinander zu sehen ist oder nicht.
Aufgrund der am Ende des Prozesses stehenden Präferenzwahl besteht
dabei keine Gefahr, dass sich ähnliche Initiativen – also z. B.
unterschiedlich hohe Mindestlöhne oder verschiedene
Finanzierungskonzepte für ein Grundeinkommen – gegenseitig Stimmen
wegnehmen. Es ist also problemlos möglich, beliebig viele
Initiativen in einem Thema zu unterstützen – und auch sinnvoll,
dies bei allen zu tun, denen man prinzipiell zustimmen würde.
*- Und wie geht der Prozess dann weiter?*
Nach Ablauf der Diskussionsphase tritt ein Thema zunächst in die
Phase „Eingefroren“. Neue Initiativen können dann zwar noch
eingestellt werden, das Bearbeiten von Initiativen ist aber nicht
mehr möglich. Der Sinn dieser Phase ist es, sicherzustellen, dass
die zur Auswahl stehenden Initiativen nicht noch kurz vor der
Abstimmung durch einzelne Benutzer so geändert werden können, dass
gewünschte Abstimmungsoptionen nicht mehr zur Verfügung stehen.
Danach beginnt die letzte Phase des Prozesses: Alle Initiativen,
die ein gewisses Quorum an Zustimmung überschritten haben, kommen
in die Abstimmung. Jeder Benutzer kann eine Stimme abgeben, in der
er die Initiativen des Themas in der Reihenfolge seiner Vorliebe
angibt. Dabei wird zusätzlich zwischen Zustimmung und Ablehnung
unterschieden, aber auch abgelehnte Initiativen können noch in eine
Reihenfolge gebracht werden, damit das „geringere Übel“ angegeben
werden kann. Am Ende der Abstimmungsphase werden alle Initiativen,
die eine Mehrheit an Zustimmung haben, in einem
Präferenzwahlverfahren miteinander verglichen. Die Initiative, die
dabei im Vergleich mit den anderen von den Benutzern mehrheitlich
bevorzugt wird, gilt dann im System als beschlossen.
Soviel zu dem Prozess, der LF zugrunde liegt. In den nächsten
Newslettern werden wir auf weitere Fragestellungen zu LQFB
eingehen. Wenn ihr Fragen habt, die ihr gern beantwortet haben
möchtet, könnt ihr sie gern an
[redaktion@die-flaschenpost.de](mailto:redaktion@die-flaschenpost.de)
schicken!
Für weitere Informationen sind die folgenden Seiten zu empfehlen:
[LiquidFeedback in 3 Minuten](http://liquidfeedback.org/projekt/)
[Ausführliche FAQ zum bundesweiten Betrieb von LiquidFeedback](http://wiki.piratenpartei.de/LiquidFeedback/FAQ)
[Wikiseite](http://wiki.piratenpartei.de/LQPP/Fragen), auf der Fragen zu bundesweiten Einführung von LF gestellt werden können.