Dr. Volker Jaenisch, Mitglied der Piratenpartei und Koordinator AG Umwelt, war der erste Wissenschaftler, der Modellberechnungen über die Entwicklung einer möglichen, radioaktiven Wolke, ausgehend von Fukushima, erstellt hat. Auch wir hatten seine Seite verlinkt. Auf die Bilder seiner Modellberechnungen wurde von allen Kontinenten aus zugegriffen und er hat viele hundert Mails von besorgten Deutschsprachigen aus aller Welt bekommen. Vor wenigen Tagen hat er auf dem Blog der Anti-Atom-Piraten einen Beitrag veröffentlicht. In diesem rief er andere Wissenschaftler dazu auf, die Regierung dazu zu drängen mehr Transparenz seitens Japans zu fordern. Nun stand er auch der Flaschenpost für ein Interview bereit.
Flaschenpost: Hallo Volker. Am besten stellst du dich für unsere Leser kurz vor und erzählst, was dich dazu veranlasst hat, die Modellberechnungen zu Fukushima durchzuführen.
Dr. Volker Jaenisch: Hallo, ich heiße Volker Jaenisch, bin Physiker und promovierter Meteorologe. Als die ersten Meldungen von Fukushima kamen hatte ich ein ungutes Gefühl. Spätestens als ich bei Wikipedia sah, dass dort Uralt-Reaktoren betroffen waren. Es war also nicht auszuschließen, dass es dort zu Explosionen und/oder Freisetzung von Radioaktivität kommen würde. Erstaunlicherweise fand ich aber im ganzen Netz bei den üblichen Verdächtigen, also NOAA, NASA, Deutscher Wetterdienst, usw. keinerlei Prognosen für den Ernstfall. Zusammen mit meiner Frau, welche sich als Meteorologin mit der Ausbreitung von Aerosolen beschäftigt, erstellte ich dann selbst Modellrechnungen mit dem Trajektorienmodell von NOAA. Die Ergebnisse waren insofern hoffnungsvoll, dass alle Trajektorien aufs Meer zeigten. Diese ersten Modellrechnungen stellte ich ins Netz und postete bei den Piraten auf der Aktiven-Liste und der Liste der AG Umwelt einen Link dazu.
Flaschenpost: Gut, dann wollen wir darauf ein wenig mehr eingehen: Bei den kritischen Reaktoren in Fukushima handelt es sich Siedewasserreaktoren und diverse Medien berichteten, das die relativ hohen Sicherheitsstandards eingehalten wurden. Wo genau liegt den das Problem bei dieser Art Reaktor?
Dr. Volker Jaenisch: Zum einen haben die Siedewasserreaktoren nur einen Wasser/Dampf Kreislauf. Die Turbinen werden also mit leicht radioaktivem Dampf betrieben. Dies bedeutet, dass sie einen etwa 30% höheren Wirkungsgrad haben als andere Reaktoren, weil die aufwändige Wärmetauschung, welche radioaktives Wasser von nicht radioaktivem Dampf trennt, entfällt. Diese höhere Energieausbeute erkauft man sich aber damit, einen sehr viel größeren Komplex an Technik so zu versiegeln, dass keine Radioaktivität austreten kann. Die ersten Meldungen über Probleme bei den Japanischen AKWs bezogen sich auf Brände in den Turbinengebäuden. Turbinen mögen keine Erdstöße, da die schnelle Rotation die Turbinen durch die sogenannten Kreiselkräfte Ortsfest macht. Wenn sich also der Boden unter der Turbine z.B. durch ein Erdbeben verschiebt, bleibt die Turbine im Raum fest verankert. Die Lager müssen die gesamte Kraft auffangen, was dann in der Regel zu Lagerbränden führt. In schlimmeren Fällen reißt das Lager und die Turbine macht sich selbstständig. So eine losgerissene Turbine mit einigen Tonnen Gewicht walzt alles platt was im Weg steht. Weiterhin ist der Dampf im Turbinengehäuse – wenn auch nur schwach – trotzdem radioaktiv. Wenn also im Turbinengehäuse eine Explosion oder ein Feuer ausbricht dann kann alleine schon dadurch Radioaktivität ins Freie gelangen. Dies war meine erste Hypothese. An eine Kernschmelze dachte ich zunächst noch gar nicht.
Flaschenpost: Zum Thema Kernschmelze: Die Betreiberfirma TEPCO und auch die Regierung hat eingestanden, das eine Teilweise Kernschmelze stattgefunden hat. Zur Zeit gibt es auch Lecks, an welchen das radioaktive Meerwasser, welches zum Kühlen verwendet wird, in großen Mengen austritt. Versuche diese Leck mit Kunststoff oder Beton zu verfüllen sind bislang gescheitert. Wie beurteilst du die gegenwärtige Situation?
Dr. Volker Jaenisch: Die Situation ist definitiv schlecht. Die Informationslage ist aber noch viel schlechter. Daher fällt es sehr schwer ein schlüssiges Bild zu erhalten. Meine Vorstellung deckt sich sehr mit der aktuellen Studie von AREVA zu diesem Thema. (Anmerkung der Redaktion: besagte AREVA-Studie ist hier als PDF zu finden. Größe ca. 3,8MB)
Diese Studie geht davon aus, dass in Reaktor 2 zumindest eine partielle Kernschmelze stattgefunden hat und die Wasserstoffexplosion in diesem Reaktor auch das Containment beschädigt hat. Diese Hypothese wird von vielen Fakten bestätigt, wie der hohen Radioaktivität und den Spaltprodukten welche auf dem Gelände gefunden wurden. Ob und wie gravierend Kernschmelzen in den anderen Reaktoren stattgefunden haben ist schwer zu beurteilen. Eine sehr große Gefahr geht auch von den Abklingbecken aus. Die eine schwarze Rauchwolke, welche TEPCO jäh das ganze Areal räumen ließ, war meiner Meinung nach ein Brennelemente-Brand im Abklingbecken von Reaktor 3. Dieser könnte auch für die Verseuchung mit Plutonium verantwortlich sein. Die Lage an Reaktor 2 ist definitiv nicht einfach zu lösen. Zum einen muss dieser Reaktor stark gekühlt werden zum anderen muss das Leck geschlossen werden. Um zu kühlen muss unter hohem Druck Kühlmittel in der Reaktor gepumpt werden. Genau dieser Druck aber vergrößert das Leck und verhindert die Abdichtung. Vor allem müsste das Leck von innen abgedichtet werden – aber in die Reaktoren kommt kein Mensch rein – und wenn doch so wohl nicht wieder lebend raus.
Flaschenpost: Das sind nicht gerade rosige Aussichten für Fukushimas Zukunft. Aufgrund deines Doktors in Meteorologie liegt deine Stärke ja in der Beurteilung von Luftbewegungen. Hin und wieder treten radioaktive Dämpfe aus den Reaktoren aus. Wie gefährlich sind diese wirklich für das Umfeld? Wie weit können die Wasserdampfpartikel theoretisch transportiert werden, um noch eine Gefahr für die Bevölkerung darzustellen? Je nach Windrichtung, gehe ich davon aus das ganz Japan betroffen sein könnte. Aber was ist mit anderen, nicht zu weit entfernten Regionen wie China, Russland, den Philippinen oder Java Inseln? Und wie sieht es überhaupt mit Wasserströmungen aus?
Dr. Volker Jaenisch: Japan befindet sich in der sogenannten Westwindzone in der der Wind fast nur von West nach Ost weht. Daher wird also fast alles radioaktive Material in Richtung der USA über den Pazifik getrieben. Trotzdem wird ein Teil nach Süden oder Norden wandern. So ist z.B. ein minimaler Anteil der Strahlung über den Polarkreis nach Grönland, Island und Europa gelangt. Auch ist es so, dass z.B. Indonesien in der südlich verlaufenden Passatwindzone liegt, in der die Winde von Ost nach West wehen. Simulationen (NILU, DWD) zeigten, dass wenn für ein paar Tage der Wind über Japan so weit nach Süd-Osten bliese, Radioaktivität von der Westwindzone in die Passatwindzone gelangt. Die Passatwinde trieben dann die Wolke in südwestlicher Richtung nach Indonesien. Die bananenförmige Strecke welche nach Indonesien zurückgelegt wird ist allerdings länger als auf direktem Wege. Und schon der direkte Weg ist mehrere 1000 km lang. Die USA sind etwa genauso weit weg und bekommen den Großteil aller Radioaktivität mit der Westwindzone ab. Deren Messungen zeigen, dass die Radioaktivität aus Japan deutlich unter der natürlichen Strahlenbelastung liegt.
Der Katastrophenschutz geht bei troposphärischem radioaktivem Fallout von einer Reichweite von bis zu 4000 km aus.
Wobei dieser Annahme eine Atomexplosion zugrundeliegt, welche radioaktives Material sehr hoch in der Troposphäre (und sogar in die darüber liegende Stratosphäre) verteilt. Es macht einen sehr großen Unterschied, ob nun wie bei Fukushima in etwa 200m bis 500m Höhe Material in die Atmosphäre gelangt oder bei einer Nuklearexplosion in 5000-6000m Höhe. Denn die Geschwindigkeit der Winde nimmt mit der Höhe stark zu. Da das Wetter mit Niederschlag und Absinken, auf natürlichem Wege die Radioaktivität recht schnell (ein paar Tage bis zu 2 Wochen) aus der Atmosphäre entfernt – ist einem Transport von Radioaktivität eine natürliche Grenze gesetzt. Die tatsächlich maximal erreichbare Entfernung kommt nur zustande, wenn Partikel sehr hoch geschleudert werden, was nicht der Fall war. Noch dazu kommt, dass über dem Meer immer genügend Feuchtigkeit zur Verfügung steht um Partikel durch Kondensation zu binden und absinken zu lassen. Radioaktivität breitet sich also in der Regel über Land weiter aus. Natürlich verschwindet Radioaktivität nicht einfach. Langfristig wird sich die freigewordenen Radioaktivität um den ganzen Planeten verteilen, wie schon bei den Atomwaffentests des kalten Kriegs. Die Skala ist nur eine andere, da die vielen Tonnen Plutonium in den Kraftwerken gefährlicher sind als einzelne Nuklearexplosionen – wobei ich letztere nicht verharmlosen möchte.
Japan hat noch sehr viel Glück, weil es in der Westwindzone liegt und AKWs an der Ostküste betroffen war. Ein Unfall wie Fukushima westlich von Tokio (da stehen etwa 20 AKW) hätte wohl eine Evakuierung von Tokio nötig gemacht.
Flaschenpost: Kommen wir zu einem anderen Thema: Auf deiner Seite, wo du die Modellbetrachtungen online gestellt hast, hast du die Anti-Atom-Piraten verlinkt. Auf ihrer Seite wiederum wurden deine Modellrechnungen verlinkt. In einem kurzen Gespräch, welches wir vor einigen Tagen führten, erzähltest du mir, das du in dieser Zeit recht eng mit Jürgen Stemke von den Anti-Atom-Piraten zusammengearbeitet hast. Wie sah diese Zusammenarbeit aus? Könntest du dir vorstellen, auch in Zukunft bei den Anti-Atom-Piraten tätig zu sein oder andere Synergien zu finden?
Dr. Volker Jaenisch: Die Zusammenarbeit in den ersten drei Tagen war mehr als chaotisch – nicht weil die AntiAtom-Piraten Chaoten wären – sondern weil wir Tag und Nacht gearbeitet haben um möglichst aktuelle Informationen zur Verfügung zu stellen. Ich habe hunderte von E-Mails bekommen von verängstigten Bürgern aus der ganzen Welt welche endlich mal eine fundierte Meinung hören wollten. Nur bis Dienstag gab es außer den Atompiraten und meiner Seite so gut wie keine fundierten Informationen. Die Medien bauschten jedes noch so winzige Gerücht auf und verbreiteten Panik. Es war also eher unsere Aufgabe mit verlässlichen Informationen aufzuwarten und zu deeskalieren.
Jürgen und ich posteten uns gegenseitig Material und Links zu, um jeweils des anderen Expertise einzuholen. Kine beruhigte über Twitter. Danebod beruhigte auf der AG Umwelt Mailingliste. Ich aktualisierte meine Modelle und erdachte immer neue Methoden um aus der eigentlich für völlig andere Zwecke entwickelten Simulation noch das Letzte rauszuholen. Samstag morgen hatten wir 30.000 Zugriffe pro Stunde auf unserer Site, die AntiAtomPiraten waren schon in der Nacht aus dem Netz geflogen. Mein Kollege Maik setzte einen Cache vor unsere Site, damit wir nicht das gleiche Schicksal erleben mussten und wir waren nur für kurze Zeit offline. Samstag Mittag rief dann DPA an und wollte meine Simulationen für den Spiegel-Online haben. Sie hatten ebenfalls beim DWD, NOAA usw. angefragt und keine Antwort bekommen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt traf mich der Schock, dass ich offenbar tatsächlich der einzige war, der solche Simulationen zur Verfügung stellte. Meine Ergebnisse gingen also an SPON, wobei ich als Urheber aber nicht genannt werden wollte. Die Simulation, welche ich verwendete war ja Open Source und daher bat ich DPA als Urheber NOAA zu nennen – die Jungs haben das Teil ja gebaut, was ich nur verwendet habe.
Als dann Sonntag der dritte Reaktor explodierte, der Wind auf Tokio drehte und die privaten Geigerzähler aus Tokio (die staatlichen Messstationen waren ja zensiert), auf welche wir Zugriff hatten, anfingen nach oben zu gehen löste ich per EMail bei allen Deutschen, welche mir aus Japan geschrieben hatten Alarm aus und riet denen sich einzuigeln. Ich hatte zwei Nächte nicht geschlafen und meine Frau fragte um mich besorgt “Warum macht Du das?”. Ich antwortete bitter: “Weil ich es kann und kein anderer es macht”. Es war eine unglaublich schwere Last die da auf meinen Schultern lastete. Viele Menschen erbaten meinen Rat und ich sollte aufbauend auf löcherigen Informationen eine wissenschaftliche Expertise geben. An dieser niederdrückenden Verantwortung wäre ich zerbrochen, wenn nicht Dienstag endlich der österreichische Wetterdienst die ersten FLEXPART-Simulationen ins Netz stellte, die meine Vorhersagen stützten. Ich brauchte dann etwa eine Woche um wieder klar denken zu können. Das alles war eine traumatische Erfahrung, die ich nicht noch einmal machen möchte.
Flaschenpost: Kommen wir zu unseren letzten Frage: Anfangs sagtest du, du hast deine Modelle über diverse Mailinglisten gepostet. Sicher gab es da auch einiges an Feedback. Wie empfandest du die Reaktionen innerhalb der Partei auf die Arbeit von Jürgen Stemke und dir?
Dr. Volker Jaenisch: Mein erster Post vom 11.3. wurde von den üblichen Listen-Trollen verrissen. Es kamen Sprüche wie “Ich glaube es, sobald es im Fernsehen läuft”. Als es dann im Fernsehen lief passierte genau das was immer auf der Liste passiert. Es wurde eine wildes Labern, Hauen und Stechen. Dann kam der übliche Ruf “Die Piraten schüren Panik, sie satteln auf Katastrophen auf” usw. den ich genauso wenig zielführend finde. Während sich also in den Foren hunderte Piraten in ellenlangen Threads die Köpfe heiß geredet haben, hat eine kleine der Truppe AG Umwelt und die AntiAtomPiraten hart dafür gearbeitet das verlässliche Informationen redaktionell überarbeitet, sofern möglich geprüft und fachmännisch bewertet, und publiziert wurden. Dafür nur Hohn und Gegenwind zu bekommen tut weh. Es gab leider nur ganz wenige, welche unsere Arbeit positiv dargestellt haben. Genau dies habe ich bei den Piraten schon in sehr vielen unterschiedlichen Kontexten erlebt. Und ich frage mich wirklich, wie wir mit dieser zersetzenden Einstellung mehr als eine Splitterpartei werden wollen.
Flaschenpost: Das klingt nicht sonderlich erbaulich, dennoch danke ich dir im Namen der Flaschenpost und unserer Leser für eure geleistete Arbeit und natürlich auch dafür, dass du die Zeit für ein Interview gefunden hast.
Dr. Volker Jaenisch: Dankeschön.