Wolfgang Gründinger weiß wovon er schreibt, wenn er Deutschland als Land beschreibt, in dem die Jugend so viele Freiheiten wie noch keine Generation vor ihr hat, sich aber gleichzeitig auch so wenig Zukunftsperspektiven wie kaum eine Generation vor ihr hingeben kann. Der 29-jährige Berliner promoviert gerade über “Interessengruppen in der Energiepolitik”. Er kennt seine Generation, die Bildungsmisere und die Politik aus eigener Betrachtung. Das brachte ihn wohl dazu sein inzwischen fünftes Buch zu schreiben: “Wir Zukunftssucher. Wie Deutschland enkeltauglich wird”
Der Titel führt etwas in die Irre. Denn Gründinger beschreibt nicht die Suche nach der Zukunft, sondern liefert eine klare Analyse des Ist-Zustandes. Dazu nennt er klare Forderungen, was anders werden muss, um Jungen eine Perspektive, auch zur Familiengründung, zu geben.
Das Buch besteht eigentlich aus zwei Teilen. Der erste, weitaus umfangreichere Teil, liefert eine Ist-Analyse. Wolfgang Gründinger untersucht sehr genau und mit viel Detailwissen die bundesrepublikanische Realität und zeigt sehr treffend, wo Entwicklungen aktuell in die falsche Richtung gehen. Da tatsächlich sehr viel in die falsche Richtung läuft, ist dieser Teil des Buches sehr ausführlich geraten. Im zweiten Teil erfüllt er das Versprechen des Titels “Wie Deutschland enkeltauglich wird”, indem er Änderungen für eine bessere Zukunft vorschlägt. Die Analyse ist scharfsinnig, richtig und widerspruchsfrei gelungen. Die Forderungen, die daraus abgeleitet werden, sind folgerichtig und könnten funktionieren – leider klingt hier jedoch ein “Jetzt sind wir mal dran” mit, was dem Forderungskatalog etwas Egoistisches gibt.
Gleich in den ersten Seiten hinterfragt Gründinger unsere Vorstellungen vom alt werden, ohne alt sein zu wollen. Und er zerlegt die Form der Alterspyramide, die uns als Idealbild einer Gesellschaft präsentiert wird. Denn diese Form bedeutet auch: hohe Kindersterblichkeit, eine konstante “Sterblichkeitsrate” über jeden Jahrgang und in Konsequenz nur wenige, die tatsächlich ein hohes Alter erreichen. Anschließend wird mit dem Wort “Generationenkonflikt” aufgeräumt, da die Konflikte heute zwischen den Schichten, nicht zwischen den Generationen ausgetragen werden. Dazu kommt diese Art von Generationenkonflikt, der nicht mehr in den Familien, sondern in den Parlamenten und den Unternehmen ausgetragen wird: Die alten Besitzstandsbewahrer in sicheren Positionen gegen die Jungen, die ihren Anteil haben möchten.
Seine eigene Generation beschreibt der Wahlberliner als illusionslos, im privaten Bereich solidarisch, aber nicht mehr auf Sicherheiten hoffend. Dazu passt es, dass kein “Junger” mehr dem Heilsversprechen des freien Marktes vertraut. An eine sichere, auskömmliche Rente glauben in diese Generation nur wenige. Das Verlangen das zu ändern verspüren jedoch auch nur wenige. Rudi Dutschke versprach nicht weniger als die Weltrevolution. Heutige Studenten wollen gerade mal die Studiengebühren abschaffen. Allerdings, und auch das wird nicht verschwiegen lassen die Anforderungen des Studiums kaum Zeit für politisches Engagement. “Praktikumssuche statt Barrikaden” heißt die Devise, “Bewerbungen schreiben statt Parteitagsanträge”.
Dennoch beschreibt er seine Generation als optimistisch, da ihr die Welt offen steht. Was die Zuversicht stört sind abgewirtschaftete Politiker, die mit Konzepten von Gestern versuchen die Zukunft zu gestalten. Sie retten Banken und Autokonzerne, während es in Universitätsbibliotheken hinein regnet. Doch Ungerechtigkeit im Wirtschaftssystem scheint inzwischen von vielen akzeptiert zu werden. Dass sich 80% der Bevölkerung vor Armut im Alter fürchtet führt nicht zur Revolution, sondern zum Abschluss von Sparverträgen. Die Gewissheit, sich nicht auf den Sozialstaat verlassen zu können, herrscht inzwischen vor. Seine, die prekäre Generation, versteht sich als bescheidener als die vorherigen. Nicht “Geld verdienen” steht im Vordergrund, sondern ein anders geartetes Verlangen nach einem ausreichenden Auskommen.
Sehr scharfsinnig gelingt die Analyse, warum es nun weniger Kinder gibt. Dies beginnt bei den wirksamen Verhütungsmitteln, die es ermöglichen auf den “richtigen Augenblick” zu warten – und dem Fehlen des richtigen Augenblicks. Doch gar nicht so selten wird der passende Augenblick verpasst. Die Zeit ist schlicht abgelaufen, man hat sich an das kinderlose Dasein gewöhnt oder sich mangels Perspektive dazu entschlossen keine Kinder “in diese Welt” zu setzen.
Gründiger reiht sich nicht in die Reihe derjenigen ein, die ständig vom Niedergang Deutschlands sprechen. Vor allem, da er in europäischen Nachbarländern beobachtet wie “Niedergang” tatsächlich aussieht. Doch prangert er an, dass es gerade eben in Deutschland sozial unfairer wird, dass die Aufstiegschancen nicht mit Wissen und Können, sondern mit Herkunft verknüpft sind. Und dass die soziale Ungerechtigkeit zunehmend größer wird.
Allerdings scheint die Vergangenheit in diesem Buch seltsam verklärt. Es gab keine Zeit, in der die Schulabgänger ihre berufliche Zukunft als glänzend bezeichneten. Nicht zu Zeiten der Studentenunruhen, nicht in den frühen und späten 80ern, in denen viele weder einen Studienplatz noch eine Ausbildungsstelle fanden. Oder zumindest nicht das bekamen, was sie anstrebten und somit ein Talent an anderer Stelle verloren ging. Was aber wahr ist: früher wurde “anständig” bezahlt. Zwar führten die Studenten und Auszubildenden jener Jahre kein auf Rosen gebettetes Leben, doch reichte das Geld für mehr als das reine Überleben.
Groß geworden in der Dauerkrise, bedauert Gründinger eine Entfremdung der Gesellschaft von der Politik. Doch leider erliegt Gründinger der Versuchung, für die Jugend den Entscheidungskampf um Deutschland auszurufen. Jung gegen Alt. Die, die ihren Platz in der Zukunft einfordern gegen jene, die sich in der Vergangenheit einen Platz in der Gegenwart erarbeitet haben.
All das wird an Zahlen und Zitaten festgemacht, doch manchmal ermüdet dieses Faktenwissen. Gelegentlich gleitet Gründinger in abgedroschene Phrasen und Polemik ab. Die “kälter werdende Gesellschaft”, die Milieustudien, die Hackordnung. Ganz neu ist auch nicht die Klage, dass die Karriere schon vor Beginn des Studiums durchgeplant sein muss, um später am Arbeitsmarkt bestehen zu können. Und die Mühen des Spagats zwischen Kindern, die vom Arbeitgeber erwartet werden und der Flexibilität, die derselbe Arbeitgeber jederzeit erwartet. Wahrscheinlich sind diese Klagen so alt wie das Klagen über die “Jugend von heute”.
Gelegentlich fallen in diesem Buch Begriffe, die sehr piratig klingen. So ist von “kapern” die Reden und tatsächlich erinnert man sich an vielen Stellen an die Gründe, Pirat geworden zu sein. Wir Piraten kommen in diesem Buch erfreulich gut weg. Er widerspricht der Darstellung wir wären eine obskure Sekte gewissenloser Internetanarchisten. In uns Piraten verortet er die orangene Revolution, bezeichnet uns gar als Partei des freiheitlichen Humanismus. Mit Genugtuung liest man, dass Gründinger unser Programm genau studiert hat. Vom Urheberrecht über das erweiterte Grundprogramm bis zu den Bürgerrechtsthemen ist ihm alles bekannt. Es ist nicht so, dass wir in diesem Buch als Allheilmittel beschrieben werden, die Segel aber sieht er als gesetzt.
Wir Zukunftssucher –
Wie Deutschland enkeltauglich wird
223 Seiten
edition Körber-STIFTUNG
ISBN-10: 3896840924
Wo die Möglichkeiten dieser Generation behandelt werden, sind die Möglichkeiten des Netzes zuerst zu nennen. Erstaunlich ist, dass tatsächlich zuerst die Gefahren zur Sprache kommen. Die gigantischen Datenhalden, die Facebook & Co anhäufen und die alles in den Schatten stellen was die STASI zu leisten vermochte. Und wie hilflos die deutsche Politik den neuen “global Playern” gegenübersteht. Oder selbst ein Stück vom Datenkuchen wollen und darüber hinaus die lückenlose Protokollierung jeder Kommunikation einführen möchte. Wir lesen auch, dass Musik- und Filmindustrie es versäumt hatten, ihr Geschäftsfeld ins Internet auszubreiten. Das führte zu den bekannten Folgen – und Internetnutzern, die sich kriminalisiert sehen. Auch widerspricht er der Milchmädchenrechnung, dass das, was so alles heruntergeladen wird, 1:1 in Verluste der Medienkonzerne umgerechnet werden kann. Auf der anderen Seite steht das Geständnis: “Was auf unseren Festplatten liegt könnten wir uns unmöglich leisten”. Im Kampf für das Urheberrecht sieht Gründinger jedes Maß verloren. Doch fehlt es Gründiger nicht am Gerechtigkeitssinn: Er schlägt alternative Einnahmequellen für Kreative vor, die das Einkommen sichern ohne alle Bürger auszuspähen: die Kulturflatrate. Statt dessen beklagt er, dass in der Realität Schutzfristen verlängert werden und Verwertern so ein leistungsloses Grundeinkommen verschafft, das weit ab jeder gesellschaftlichen Realität ist.
Hier wird zum ersten Mal Kritik an Älteren deutlich, die es nicht wahrhaben wollen, dass Bürger nicht überwacht werden wollen. Auch ACTA mit seinen Geheimabkommen wird kritisiert, weil wieder alles überwacht werden soll – nur um das Urheberrecht durchzusetzen. Hier regt sich erneut das Gerechtigkeitsgefühl: Ist das Ziel legitim genug um die Mittel zu rechtfertigen? Die totale Überwachung jeder Regung im Internet, nur um Urheber vor vermutetem Rechtsbruch zu schützen?
Der digitale Generationenkonflikt wie Gründinger ihn beschreibt klingt eher nach Besatzungsstatus: Politiker, die nicht wissen wie Netzwerke funktionieren beschließen Regeln, die die digitale Welt der analogen möglichst ähnlich machen sollen.
Die ältere Generation steht im Kreuzfeuer seiner Kritik: Gesättigte Alte, Besserwisser, mit flauschigem Wohlstandskissen und selbstgerechter Nostalgie. Aber genau hier ist der Denkfehler Gründingers: mit derselben Überzeugung, mit der die kritisierte Gruppe ihren Wohlstand verteidigt, fordert Gründlinger zur Abgabe eben dieses Wohlstandes an die Jungen. Die Begründung ist auf beiden Seiten gleich: “Das steht mir zu”.
Bei den Handlungsempfehlungen wird das Buch leider schwächer. Nach 122 Seiten klarer Analyse wechselt der Stil zu einem “Jugend über alles”. Dass Jugendpolitik sich meist auf das Verbot von “Killerspielen” beschränkt ist leider zutreffend. Doch wird nun eine neue Interessengruppe, scheinbar die einzig legitime, ins Spiel gebracht. Das Klagen über die “Jugend von heute” wird ersetzt durch die Forderung “lasst uns jetzt und sofort in Konzernen und Parlamenten mitentscheiden”. Gelegentlich scheint Neid im Spiel zu sein, wenn “Seniorenprivilegien” gestrichen und den Jungen zugeschlagen werden sollen. Das wird zwar gut begründet (Familie gründen, Existenz aufbauen), aber warum den Älteren das Erarbeitete weggenommen werden soll wird nicht begründet. Doch mit dem selben Recht können die von ihm kritisierten älteren Politiker sagen “wir haben das hier aufgebaut, wir lassen uns nicht entrechten”. Dass bei allem noch Themen wie “Erfahrung” mit hinein spielen bleibt gänzlich unberücksichtigt.
Alles in allem ein lesenswertes Buch. Die Analyse könnte scharfsinniger nicht sein, wer beim Lesen der Lösungsvorschläge das Bild einer für alle gerechten Gesellschaft im Hinterkopf behält wird auch dort Ideen finden, die es wert sind zu überlegen, wie weit sie umgesetzt werden können. Für Piraten ist das Buch gleich doppelt lesenswert. Denn quasi nebenbei wird die Erinnerung “warum ich Pirat wurde” wach gerufen.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.