
Ein Gastartikel von Jerry Weyer, Übersetzung von @Korrupt, @OlleMuddi und @GefionT
Es war ein emotionaler Moment auf dem Landesparteitag Nordrhein-Westfalen dieses Wochenende: am Samstag, den 30. Juli tauschten die deutschen Piraten Grüße und Gratulationen mit den russischen Piraten auf deren Gründungsversammlung in Moskau aus. Nach einem über ein Jahr andauernden Kampf mit der Bürokratie konnten die russischen Piraten endlich das Zulassungsverfahren einleiten, um offiziell zur „Piratenpartei Russland“ zu werden.
Warum die Piratenpartei Russland nicht zugelassen wurde (Vorgeschichte)
Inoffiziell gibt es die Piratenpartei Russland bereits seit 2009 – als Zusammenschluss einer Gruppe von Menschen, die Piratenideen fördern wollen. In gut zwei Jahren konnten die Piraten mehr als 5.000 Mitgliedsanträge und 100.000 Unterstützer auf Social-Media-Plattformen sammeln und darüber hinaus regelmäßig in den russischen Medien erscheinen. 2011 wurde der erste Versuch gestartet, als Partei zugelassen zu werden. Vor den Wahlen im Dezember 2011 war die Situation für nichtregistrierte Parteien jedoch äußerst schwierig: Eine politische Partei musste, um als solche offiziell anerkannt zu werden, über 45.000 Mitglieder in der Russischen Föderation und jeweils mindestens 400 Mitglieder in mehr als der Hälfte der 83 Regionen verfügen. Diese hohen Anforderungen, gekoppelt mit dem hohen finanziellen Aufwand zum Aufbau einer dementsprechenden Struktur im größten Land der Welt führte dazu, dass seit 2006 in Russland keine neuen Parteien mehr zugelassen wurden. Im Dezember 2011 waren gerade einmal sieben Parteien zur Wahl zugelassen – in einem Land mit 143 Millionen Einwohnern!
Trotz erheblicher bürokratischer Hindernisse strebten die Piraten die Zulassung als Partei zu den Wahlen 2011 an. Jedoch wies das Justizministerium die Zulassung mit der Begründung ab, dass nach russischem Gesetz „Piraterie“ das illegale Angreifen eines Schiffes auf See bedeute und keine politische Partei mit diesem Namen zugelassen werden könne. Die Ablehnung verhinderte die Teilnahme der Piratenpartei Russland an den Wahlen 2011.

Im daraufolgenden Versuch, die Anerkennung der Bewegung als Partei zu erreichen, reichten die russischen Piraten die Zulassungsanträge beim Justizministerium unter Angabe der Parteinamen „Namenlose Partei“ und „Pirrrrratenpartei“ („Пираццкая Партия“, russischer Netzjargon) ein. Das Justizministerium sah von einer weiteren Ablehnung ab und die Piratenpartei begann mit dem Aufbau der regionalen Geschäftsstellen, um die notwendigen Voraussetzungen für eine Zulassung zu erfüllen. Bereits während dieser Vorbereitungen wurden aber Unterstützer, Pressevertreter und Mitglieder darum gebeten, die Gruppe nach wie vor „Piratenpartei“ zu nennen, obgleich die Anmeldung unter einem anderen, offiziellen Namen vorgenommen wurde.
Nach den Wahlen im Dezember 2011, (zu denen die Piratenpartei noch nicht zugelassen war), änderte sich das politische Klima in Russland. Nach mehreren Fällen von Wahlbetrug, die zu Protesten und massiven Demonstrationen führten, musste die Regierung reagieren und entschied, die Zulassungsverfahren für neue Parteien zu vereinfachen. Nach den neuen Bestimmungen sind nur noch 500 Mitglieder in ganz Russland Voraussetzung für eine Zulassung als Partei. Nach dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen reichten die russischen Piraten ihren Zulassungsantrag als „Piratenpartei Russland“ erneut ein, was vom Justiz-ministerium dieses Mal akzeptiert wurde und somit den Piraten die Chance verschaffte, den offiziellen Zulassungsprozess am 30. Juni 2012 einzuleiten.
Die Gründungsversammlung in Moskau und die Videokonferenz mit Dortmund

Vom 30. Juni 2012 ab 15.00 Uhr Ortszeit bis 1. Juli 2012 wurde von der Piratenpartei der Anmeldeprozess für die endgültige Zulassung als offizielle politische Partei begonnen. Trotz des vereinfachten Verfahrens ist die Anerkennung als politische Partei nach wie vor mit einem enormen Arbeitspensum verbunden. Eine russlandweite Gründungsversammlung muss mit Repräsentanten aus allen 83 Regionen durchgeführt, Regionalgeschäftsstellen in mindestens der Hälfte der 83 Regionen eröffnet und die Gründungsversammlungen in der offiziellen russischen Pressepublikation (Российская Газета) angekündigt werden. Die Piraten konnten glücklicherweise alle Repräsentanten in Moskau versammeln und den ersten Schritt zur Zulassung verwirklichen.
Am 30. Juni und 1. Juli wählten die Piraten einen Vorstand und stimmten über Parteisatzung und -programm ab. Die meisten Anträge waren bereits vorbereitet und auf der Website der Partei veröffentlicht worden. Die Satzung der Piratenpartei Russlands beginnt mit dem Hinweis, dass sie „frei und ohne Zustimmung der Regierung oder ihrer ausführenden Organe“ gegründet wurde, um die Unabhängigkeit von den bestehenden politischen Kräften in der Regierung zu verdeutlichen.
Das Programm verfügt über eine weitere bemerkenswerte Besonderheit: Der Journalist und Maler Alexander Delfinov schaffte es, die Positionen der Piratenpartei Russlands in Gedichtform zu bringen, wodurch es zum ersten und einzigen Parteiprogrammsgedicht der Welt wird. Die Positionen sind den Piraten weltweit wohl bekannt: Stärkung direkter Demokratie, Förderung von E-Demokratie und Open Government, Ermöglichung der freien Weitergabe von Informationen, Schutz der Integrität und Immunität der Privatsphäre. Die politische Arbeit ist geprägt von einem praktischen Ansatz: Ziel soll nicht sein, die Bürger zum Gesetzesbruch zu ermutigen, sondern Gesetze zu ändern. Die russischen Piraten erklären, Logik und Menschenverstand zu folgen, Kooperationen mit anderen Gruppen, Bewegungen und Parteien anzustreben, die den gleichen Prinzipien folgen und dieselben Ziele anstreben. Die Person, die all diese Ziele und Visionen nun bündeln soll, ist Paul Rassudov, der offiziell zum ersten Vorsitzenden der Piratenpartei Russlands gewählt wurde.

Das Highlight der Gründungsversammlung war die Videokonferenz zwischen den Piraten in Moskau und den Nordrhein-Westfälischen Piraten in Dortmund. Mehr als 500 Piraten sahen und hörten dort über 100 russische Piraten, die zu den erfolgreichen Wahlen gratulierten – ein Erfolg, der auch in den russichen Medien nicht unbemerkt blieb. Nach einer Eröffnungsansprache von Lola Veronina (einer der zwei PPI-Vorstandsvorsitzenden und internationale Koordinatorin der Piratenpartei Russland), die von Marina Weisband übersetzt wurde, tauschten Paul Rassudov (Vorsitzender der Piratenpartei Russland) und Joachim Paul (Vorsitzender der Piratenfraktion im Landesparlament Nordrhein-Westfalen) Glückwünsche aus und sprachen einander Mut zu. Die Reaktionen auf beiden Seiten waren überwältigend: Waren die deutschen Piraten, die um den Kampf ihrer Kollegen aus Russland wussten, angesichts der endlich gelungenen Gründung bewegt, waren dies die russichen Piraten ihrerseits angesichts der schieren Zahl der Piraten in Dortmund, die ihre Gründung mit ihnen feierten.
Piraten in Russland: Der erste Schritt ist gemacht, ein langer Weg steht noch bevor
Das offizielle Gründungstreffen der Piratenpartei Russland fand am 30. Juni statt – nicht nur den Piraten in Nordrhein-Westfalen wurde die historische Reichweite dieses Ereignisses bewusst. Aber das ist erst der Anfang: Jetzt müssen die russischen Piraten die regionalen Geschäftsstellen schaffen und alle Dokumente genehmigen lassen, bevor sie offiziell anerkannt werden können. Diese gesamte Arbeit muss in einem politischen Klima geleistet werden, das trotz der Veränderungen nach der Wahl im Dezember 2011 noch immer sehr angespannt ist. Der Chef der Piratenpartei Russland wurde bereits mehrmals verhaftet, es gibt nach wie vor fast alle zwei Wochen Proteste, sogar Journalisten werden verhaftet und verlieren ihre Akkreditierung.

Mit um so größerer Erleichterung ist festzustellen, dass die Piratenpartei Russland trotz aller Schwierigkeiten und Sorgen einen klaren Kopf und den notwendigen Humor behält. So nutzten die russischen Piraten die Gelegenheit, dem Vorbild ihrer deutschen Kollegen zu folgen und genossen während der Auszählpause zu den Vorstandswahlen die einfachen Freuden einer Episode von „My little Pony“. Nach der Kopie der Tradition ihrer deutschen Kollegen ist nun die Kopie ihres Erfolgs der nächste Punkt auf der Agenda der russischen Piratenpartei.
Videos
Videokonferenz vom Landesparteitag NRW mit der Gründungsversammlung in Moskau
Russiche Piraten sehen die Livekonferenz von Moskau nach Dortmund („wie es von der anderen Seite aussah“, ab 17:56)