Im Dezember fand die ITU-Konferenz WCIT (World Conference on International Telecommunications) in Dubai statt. Die ITU (International Telecommunication Union) ist eine UN-Sonderorganisation mit über 190 Mitgliedsländern. Es kamen zahlreiche umstrittene Vorschläge auf den Tisch.
Auf Drängen einiger Länder sollte die ITU für alle Netzwerke eine Deep Packet Inspection vorschreiben, um dadurch Urheberrechtsverletzungen verfolgen zu können und das Urheberrecht zu stärken. Nebenbei würde so ein wirksames Instrument für die Internet-Zensur entstehen.
Der nichtöffentliche Entwurf zum Standard Y.2770 (Requirements for Deep Packet Inspection in Next Generation Networks) wurde anscheinend von China angeregt und im Dokument einer koreanischen Standardisierungsorganisation näher erläutert. Es verspricht, dass auf diese Art und Weise eine Erleichterung bei der Entdeckung und Aufklärung von Verstößen gegen das Urheberrecht erreicht werden könne. Die ITU-T, die Standardisierungsgruppe der ITU, hat diesen Entwurf mehrheitlich angenommen.
Unter anderem Alissa Cooper und Emma Llansó vom Center for Democracy and Technology werfen der UN-Organisation in einem Blogeintrag vor, Privatsphäre und Sicherheit von Internet Nutzern zu ignorieren. Die ITU-T hätte ohne Debatte eine Technologie befürwortet, die den gesamten Internet-Traffic eines Nutzers untersuchen würde. Zugriff auf E-Mails, Banküberweisungen und Telefongespräche wären so ohne Berücksichtigung der Privatsphäre möglich. Selbst die Untersuchung von verschlüsselter Kommunikation sei vorgesehen.
Der Vertrag wurde von 89 Delegationen unterschrieben, 55 unterschrieben nicht, unter anderem Deutschland. Die deutsche Delegation kündigte an (wie viele andere Delegationen auch), sie werde erst “zu hause” beraten und dann entscheiden. Es ist bedenklich, dass anscheinend die gefassten Beschlüsse als nicht mehr so problematisch angesehen werden wie ursprünglich gedacht. Die Bundesregierung hatte wohl eine “Rote Linie” benannt, die mit dem neuen Vertrag nicht überschritten werden dürfe. Sie ist sich aber anscheinend nicht sicher, ob diese überschritten wurde. In einer Mitteilung des zuständigen Wirtschaftsministeriums hieß es, dass der neue ITR-Text “Unschärfen” enthalte, die die Bundesregierung in einem breiten gesellschaftlichen Dialog erörtern und diskutieren wolle. Dazu sollten in der nächsten Zeit Gespräche mit Unternehmen, Vertretern der Zivilgesellschaft und anderen beteiligten Akteuren stattfinden. Erst dann solle entschieden werden, ob Deutschland unterzeichnet.
Ein klares Signal aus Deutschland wäre ein Boykott des Vertrags wie es z. B. die USA gemacht haben. US-Delegationschef Terry Kramer sagte unmittelbar im Anschluss an die Abstimmung, dass die USA keinen Vertrag unterstützen könne, der nicht das Multi-Stakeholder-Modell (Interessenbündnis zwischen Wirtschaft, Staat und Wissenschaft) zur Internetregulierung stärke. Das derzeitige System der Internetverwaltung durch ICANN und ISOC, also durch nichtstaatliche Organisationen, solle beibehalten und gestärkt werden. Großbritannien und viele europäische Staaten schlossen sich an, Deutschland nicht. Und das, obwohl die Staatssekretärin im BMWi, Frau Anne Ruth Herkes, auf dem 3. Fachdialog Netzneutralität ganz eindeutig klarstellte, dass die Delegation der Bundesrepublik bei den WCIT-Verhandlungen unter keinen Umständen Regelungen zustimmen würde, die eine Ausweitung der ITR-Gültigkeit auf das Internet und eine damit verbundene Positionierung der ITU als wesentliche Einflussgröße im Internet erlauben würde.
Eine eindeutigere Positionierung Deutschlands zu diesem Thema wäre also möglich gewesen, scheint aber nicht im Interesse der Regierung zu sein. Die Verschärfung des Telekommunikationsgesetzes macht es den Behörden schon heute leicht, einen Bürger zu überwachen. Durch die Regelungen aus dem neuen ITU-Vertrag wäre der Schritt zum “gläsernen Bürger” gemacht. Die jetzt hoffentlich öffentlich stattfindende Diskussion um den Vertrag sollte im Interesse aller Internetnutzer geführt werden und als klares Ergebnis einen Boykott hervorbringen.