Dieser schmucklose Zweckbau am Rande der Pinneberger Innenstadt erscheint deswegen so trostlos, weil er keine Fenster hat. Ein Gebäude ohne Fenster aber hat kein Gesicht. Wir können es zwar alle sehen, aber kaum jemand nimmt es daher wahr.
Im Inneren des Gebäudes würde einfallendes Sonnenlicht auch nur auf den Bildschirmen stören. Hier stehen viele Bildschirme, die überwacht werden – besser gesagt, wird das überwacht, was hunderte Überwachungskameras aus dem gesamten Kreis Pinneberg an diese Bildschirme senden.
Am Abend werden uns Bernhard Bündner, Rainer Heimfeld und Teamleiter Gerd Diester überwachen. Sie sind ein eingespieltes Team. Die Spätschicht beginnt wie immer um 16:00 Uhr. Es soll ein ruhiger Abend werden und eine Stille Nacht.
Bündner stellt den Einsatzplan vor. „Wir haben noch eine angemeldete Kundgebung heute Abend. Ein Innungsmeister hat 4 Teilnehmer angemeldet und 200.“ Gerd Diester horcht auf. „Was soll das heißen, ‚und 200‘?“ Bernhard Bündner ist überfragt. „Das steht hier nicht, Chef.“ Diester stöhnt. Er hasst diese kreative Unfähigkeit der Leute beim nicht sachdienlichen Ausfüllen amtlicher Formulare. „Na, wir werden ja sehen!“
Der Einsatzplan sieht für heute den Schwerpunkt „Asylbewerber- und Flüchtlingsüberwachung“ vor, denn noch in den letzten Tagen war in Uetersen, im alten Bleekerstift, ein Notaufnahmelager eingerichtet worden. Mehrere Flüchtlingsfamilien kommen aus einem Gebiet zwischen Damaskus in Syrien und Nazareth in Galiläa; zwischen diesen beiden Städten liegen nur 130km Luftlinie.
Die schutzsuchenden Menschen waren zuvor im Kreis Pinneberg von Stadt zu Stadt, von Einrichtung zu Einrichtung und von Unterkunft zu Unterkunft weitergeschickt worden, aber keine Kommune konnte oder wollte sie aufnehmen.
Erst im „ueters End“ fanden sie in den eilends aufgestellten Wohncontainern nun eine vorläufige Herberge.
Bei den Behörden hatte es bei einem nervös wirkenden Paar kurzzeitig eine gehörige Verunsicherung gegeben. Ein vermuteter Bombengürtel stellte sich allerdings schnell als etwas ganz anderes heraus: Die Frau ist hochschwanger.
Teamleiter Diester lässt sich videotechnisch nach Uetersen durchstellen, wählt die Verkehrsüberwachung an und notiert im Protokollbuch ein erhöhtes Verkehrsaufkommen auf der Bundesstraße 431 im Uetersener Innenstadtbereich. Als er kurz danach die Kamera am Standort „Bleeker- / Ecke Parkstraße“ schaltet, wundert er sich über eine Menschentraube, die die Bleekerstraße in Richtung Norden läuft.
Er lässt die Kamera in Richtung Parkstraße schwenken und sieht weitere Menschen auf sich zukommen. Einige schieben Kinderwagen, andere schleppen Krippenspiele und eine junge Frau hat eine Pamperspackung unter dem Arm. Auffällig ist, dass sie alle ihr Handy angeschaltet haben; die kleinen Displays leuchten hell in den aufziehenden Nebel.
Gerd Diester ist irritiert und bittet Kollegen Bündner, die Handyüberwachung zu aktivieren. Er will wissen, was die Menschen auf ihren Displays haben. Einige Minuten später hat Bündner eine erste Auswertung. Die Verblüffung der drei Diensthabenden könnte kaum größer sein – die Menschen haben auf ihren Smartphones alle die gleiche Webseite aufgerufen: Es ist eine Webseite der ESA für den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko.
Vor wenigen Stunden hatte der kleine Kometenlander „Philae“ überraschend wieder angefangen zur Basis „Rosetta“ zu funken, die als Mutterstation den Kometen seit der Vorweihnachtszeit zärtlich umkreist. So leuchtet auf allen Displays hell das Bild des Kometen in die einbrechende Nacht.
„Das erklärt aber nicht, warum die alle illegal auf der Straße sind“, gibt Rainer Heimfeld zu bedenken. Nach dem erst 2013 erlassenen neuen Versammlungsgesetz in Schleswig-Holstein ist ausnahmslos jede Menschenansammlung nach Ort, Zeit und Thema sowie der beabsichtigte Streckenverlauf verbindlich anzugeben – selbst die Radfahrer können auf ihren Radtouren ein Lied davon singen.
Zur Klärung der Sachlage setzen Bündner, Heimfeld und Diester daher die von facebook adaptierte Software zur Gesichtererkennung ein. Wenige Augenblicke später hat die Automatik in den Menschenmassen bereits mehrere Persönlichkeiten identifiziert wie zB Kreispräsident Tiemann gemeinsam mit „Gemeinsam-Verein“, die Hallberg mit den Gästen des „Literatur-Cafés“ sowie weitere Honoratioren aus Kultur und Politik.
Doch dann schlägt die Gesichts– und Mustererkennungssoftware Alarm. Sie glaubt „kleinwüchsige Kombattanten in dicken Wollmänteln“ erkannt zu haben und warnt – mit Pfeifton – vor „trachtenvermummten Gestalten“, die hohe gebogene Stabwaffen tragen.
Gebannt starren die drei auf den Hauptbildschirm als Bündner mit dem Kameraobjektiv näher auf einen dieser Kombattanten im Wollmantel heranzoomt. Ein Schafskopf blökt blöde in die Kamera und dreht dem Überwachungsteam das umwollte Hinterteil zu. „Jedenfalls wissen wir jetzt, was die ‚und 200‘ zu bedeuten hatten“, bemerkt Bernhard Bündner über die Schafherde. Aber Teamleiter Diester lässt sich nicht beruhigen: „Was ist da bloß los? Wir sehen alles und begreifen nichts!“
Aufklärung versprechen sie sich daher von der Akustik, der Stimmenerkennungssoftware. Doch als die Außenmikrophone zugeschaltet sind, erfüllen anschwellende Wellen gewaltiger Stimmbilder den Äther: Wie mit Engelszungen aus einhundert jungen Knabenkehlen ertönen himmlische Choräle. Das Überwachungsteam ist überwältigt, doch sie trauen weder kalter Technik noch den eigenen Ohren. Schließlich hat die Software den Ursprung der sphärischen Klänge lokalisiert: Das vermeintlich konspirative Haus „Bleekerstraße 3“ ist Sitz der seit 50 Jahren international gesuchten und geschätzten „Chorknaben Uetersen“.
Aus Osten kommend fährt nun langsam ein kamelfarbenes Buick Roadmaster Cabriolet in den Kamerabereich ein. Auf der Motorhaube in den Lack gespritzt posiert eine reichlich spärlich bekleidete orientalische Schönheit, deren sekundäre Geschlechtsmerkmale so obsessiv hervortreten, dass man(n) notgedrungen sich an die Physiognomie eines zweihöckrigen Kamels erinnert sieht.
Bündner, Heimfeld und Diester staunen nicht schlecht über die drei Personen, die im offenen, mit Kamelhaarteppich ausgekleideten Innenraum sitzen: Es sind die polizeilich bestens bekannten „Könige der Pinneberger Unterwelt“. Am Steuer der protzigen Ludenschleuder sitzt der kreisbekannte Zuhälter Baltus Hase genannt „Balt-hasar“; auf dem Beifahrersitz der Dealer Mel Chior, bekannt als „Schwarzer Afghane“ oder auch als „Myrrhe-Man“. In einschlägigen Kreisen ist er beliebt für seinen Weihrauch „Holy Shit“. Und auf der Rückbank thront der Mafiapate Angelo Caspari mit einem breiten Lachen, das all seine Goldzähne blitzen lässt.
Mit dem Auftauchen der drei kleinkriminellen Unterweltkönige entgleitet Teamleiter Diester völlig die Kontrolle. Zunächst will er die Stadt Uetersen zum „Gefahrengebiet“ erklären, erinnert sich aber daran, dass bereits seit 2007 fast ganz Schleswig-Holstein „Gefahrengebiet“ ist und entscheidet sich daher, sofort das Mobile Einsatzkommando zu verständigen.
Endlose Minuten vergehen. Als die Beamten endlich vor Ort eintreffen, ist der Nebel ein bläulich blinkendes Fluidum.
Nichts ist zu erkennen und über die noch zugeschalteten Außenmikrophone ist auch nichts mehr zu hören … bis auf … vielleicht … ein Schreien, ein Kreischen?
Bündner, Heimfeld und Diester starren in äußerster Anspannung auf den Hauptbildschirm als plötzlich der Einsatzleiter des Mobilen Einsatz-kommandos Gotthard Engelbrecht aus dem Nebel tritt. Er trägt schwere Brustpanzerung, schwarze Sturmmaske und Stahlhelm als er in die auf ihn gerichtete Kamera ruft:
„Fürchtet euch nicht!
Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird:
Es ist ein Junge!“
Und alsbald war da bei dem Engelbrecht die Menge der himmlischen Helfer und Heerscharen, die lobten und priesen gelebte Willkommenskultur und den Schleswig-Holsteinischen Winterabschiebungsstopp und riefen:
Friede auf Erden und Fröhliche Weihnachten!