Ein Gastartikel von Hasenfuß
Die Bundestagswahl 2021 hinterlässt uns als Land in einer Lage, in der wir schon lange nicht waren: Zum ersten Mal seit 2005 wird die nächste Bundesregierung aller Voraussicht nach ohne Beteiligung der CDU/CSU auskommen müssen. SPD, FDP und Grüne haben sondiert und heraus kam dabei ein Sondierungspapier, das ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge als leichtes Gepäck bezeichnen würde. Die führenden Köpfe der beteiligten Parteien zeigen sich positiv und motiviert: die Zeit sei reif für die Ampel und das Sondierungspapier ein Ausdruck des Engagements, aber auch des Willens aller Beteiligten, über teils unüberwindbar scheinende Canyons voller unterschiedlicher Ansichten hinweg, miteinander die Bundesrepublik Deutschland in modernere, fortschrittlichere und positivere Gefilde zu führen. Das stimmt positiv und zuversichtlich, ist es doch genau das, was man hören wollte. Doch was steckt dahinter?
Vielleicht direkt ein kurzer Disclaimer vorweg: Im folgenden Beitrag werden wir uns mit einigen Punkten des Sondierungspapiers Stück für Stück befassen und relativ häufig Varianten von “Das klingt erstmal gut, sagt aber wenig und schon gar nichts Konkretes.” lesen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Sondierungspapier. Es ist jedoch, das muss man sich in Erinnerung rufen, eben genau das: ein Sondierungspapier. Kein Koalitionsvertrag, keine Regierungserklärung. Das Sondierungspapier will eine bestimmte Stimmung erzeugen: Aufbruch ins Neue, frische Herangehensweisen und vor Allem „Raus aus dem Trott“.
Das Sondierungspapier wurde von der SPD [1] veröffentlicht.
Moderner Staat und Digitaler Aufbruch
Schon in der Überschrift zum ersten Punkt wird klar: es geht um modern, digital und um Aufbruch. Weg vom alten Trott, rein in neue Wege. Grundsätzlich kann das schon gut sein und mitunter genau das, was uns als Land seit Langem fehlt.
Wir wollen einen grundlegenden Wandel hin zu einem ermöglichenden, lernenden und digitalen Staat, der vorausschauend für die Bürgerinnen und Bürger arbeitet. Es geht darum, das Leben einfacher zu machen. Staatliches Handeln soll schneller und effektiver werden und wirtschaftliche wie gesellschaftliche Innovationsprozesse befördern. Wir wollen eine neue Kultur der Zusammenarbeit etablieren, die auch aus der Kraft der Zivilgesellschaft heraus gespeist wird.
Eine zügige Modernisierung des Landes möchte man erreichen und dafür bereits im ersten Jahr der Regierung alle notwendigen Entscheidungen treffen. Schnellere Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren sind hier das Ziel, um die zentralen Voraussetzungen für diesen Wandel zu erfüllen. Grundsätzlich möchte man die Verwaltung agiler und digitaler gestalten und die Anwendungen dabei „vom Bürger her“ denken und realisieren. Auch möchte man Gesetze einem „Digitalisierungscheck“ unterziehen und generell in allen Bereichen „up to date“ werden. Das klingt erstmal gut und richtig, denn Deutschland hat hier extremen Nacholbedarf, auch und gerade im Bereich eGovernment, Breitbandausbau und Digitalisierung. Ein Blick zu unseren Nachbarn, wie zum Beispiel Österreich, Tschechien oder Frankreich zeigt deutlich, wie weit wir da hinterher hinken und dass eGovernment durchaus sinnvoll, datensicher und bequem geht, wenn man möchte. Die Ampel will, so das Sondierungspapier, hier Akzente setzen und uns aus dem Mittelalter des #Neulands in die Neuzeit bringen. Es klingt beinahe zu gut, um wahr zu sein und hier werden große Hoffnungen geweckt. Die Richtung allerdings, das muss man neidlos anerkennen, stimmt.
Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft
Ein Sondierungspapier einer Koalition zur heutigen Zeit kommt natürlich nicht ohne den Punkt Klima aus. Zweifelsohne ist das auch ein wichtiges Thema: durch fortschreitende Industrialisierung und Globalisierung haben wir als Menschheit (zumindest im „reichen Westen“) insgesamt einen Punkt erreicht, an dem wir uns zurückgelehnt uns gesagt haben „Es ist angenehm, wie es ist, so können wir es lassen.“. Lange Zeit hat das für uns auch funktioniert und der Mensch hat grundsätzlich nicht die Angewohnheit, Dinge anders zu machen, die für ihn funktionieren, wie sie sind. Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Jahrzehnte anschauen, müssen wir aber zweifelsohne anerkennen: es spricht schon sehr Vieles dafür, dass wir den Kahn diesbezüglich nicht mehr im Griff haben. Wir brauchen an der Stelle ein Umdenken.
Während ich und die Ampel uns in der Grundprämisse „Wir müssen was tun“ einig sind, sind wir uns in den Details nicht mehr ganz so einig.
Wir machen es zu unserer gemeinsamen Mission, den Ausbau der Erneuerbaren Energien drastisch zu beschleunigen und alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen.
Wie immer sollen die erneuerbaren Energiequellen das Problem lösen. Zudem möchte man „idealerweise noch bis 2030“ vollständig aus der Kohlekraft aussteigen. Wie man den stetig steigenden Bedarf, den man ja im Sondierungspapier selbst sogar einräumt und anerkennt, dabei aber decken möchte, wenn man Atom- und Kohlestrom weiterhin abschalten möchte und gleichzeitig nach wie vor keine vernünftige Möglichkeit der Energiespeicherung bietet und für die Probleme Windstille und mangelnde Sonneneinstrahlung keine Lösung hat, sagt das Sondierungspapier leider nicht. Aktuell lautet die Lösung nämlich „Strom zukaufen“ und jetzt dürfen wir alle 3 Mal raten, wie Frankreich und Belgien, von wo wir gerne kaufen, ihren Strom generieren: richtig, vornehmlich Atomkraft.
Gerade bei diesem Abschnitt hätte ich mir gerne mehr Konkretes und weniger PR-Buzzword-Sprech gewünscht.
Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt
Der Mindestlohn soll – in einem ersten, einmaligen Schritt – auf 12€ angehoben werden und künftig fortlaufend durch eine Mindestlohnkommission geprüft werden, die dann nötigenfalls weitere Anpassungen vornehmen soll. Dies ist grundsätzlich erstmal zu begrüßen und sehr sinnvoll.
Wir wollen, dass Leistung anerkannt wird. Das heißt: Wer gut arbeitet, muss auch gut bezahlt werden und gute Arbeitsbedingungen haben. Wir wollen die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden – dies befördert auch die nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West. Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln.
Das Leistung sich lohnen muss, ist kein neues Konzept und durchaus eines, dem man zustimmen kann. Grundsätzlich will man hier Arbeitsbedingungen schaffen, unter denen Arbeitnehmer gerne arbeiten: ihre Leistung soll entsprechend belohnt werden und teils widrige Umstände sollen behoben werden. Faire, angemessene Löhne und eine Angleichung zwischen Ost und West – das sind längst überfällige Vorhaben und der Teil des Sondierungspapiers ist zu begrüßen. Leider folgen dann im Rest des Abschnitts mehrheitlich wieder Buzzwords und Marketingsprech, die zwar die richtigen Schlagwortknöpfchen drücken, aber mit nur wenig konkretem Inhalt aufwarten können: man will die Gründungsförderung stärken, Bürokratie abbauen und berufliche Aus- und Weiterbildung fördern. Wie man das erreichen möchte, sagt das Sondierungspapier nur leider wieder nicht.
Soziale Sicherheit bürgerfreundlich gestalten
Eine gute, verlässliche Rente will man schaffen. Wer nun hoffte, diese gute und verlässliche Rente könne künftig alleine genügen, um den Lebensabend sichern zu können, hat zu früh gehofft: gleich zu Beginn an ist die Rede von der Förderung privater Vorsorge und dass diese nach wie vor ein elementarer Baustein sei.
Eine gute und verlässliche Rente nach vielen Jahren Arbeit ist für die Beschäftigten wichtig. Es geht darum, sich mit eigener Arbeit eine gute eigenständige Absicherung im Alter zu schaffen. Wir werden daher die gesetzliche Rente stärken und das Mindestrentenniveau von 48 Prozent sichern. Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben.
Immerhin ist keine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geplant und auch keine Rentenkürzungen. Angesichts der bisherigen magischen Lösung, Menschen einfach immer später in die Rente zu schicken, ist das ja schon ein Fortschritt und lässt hoffen. Leider krankt auch der Teil mit der Rente an einem Problem, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Dokument zieht: es fehlt an Konkretem. Man wüsste halt gerne, wie das erreicht werden soll, was man erreichen möchte. Auch, wenn dies nur ein Sondierungspapier ist und eben kein Koalitionsvertrag, keine Regierungserklärung und schon gar kein komplettes Konzept: zumindest einen kleinen Tipp, wie man all dies und noch so viel mehr erreichen möchte, hätte man uns doch geben können.
Auch Hartz IV soll angefasst werden: ein Bürgergeld soll die Grundsicherung ablösen. Es soll die Würde des Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen und digital und unkompliziert zugänglich sein. Die Mitwirkungspflicht der Betroffenen soll beibehalten werden, man will aber auch hier prüfen, wie dies entbürokratisiert und vereinfacht werden kann. Das klingt auch alles erst einmal wieder gar nicht so schlecht, aber auch hier werden uns wieder keine Hinweise darauf gegeben, wie man das bewerkstelligen und finanzieren möchte. Wie gesagt, ein Sondierungspapier kann nicht alle Fragen und Einzelheiten klären, aber dass es so gar keine konkreten Antworten liefert, hinterlässt mich dann eben doch nicht besonders glücklich und zufrieden, sondern eher fragend, wartend und wollend.
Wir wollen eine Offensive für mehr Pflegepersonal. Hochwertige Pflege gibt es nur mit gut ausgebildeten Pflegekräften, guten Arbeitsbedingungen und angemessenen Löhnen in der Pflege. Wir wollen mehr qualifizierte ausländische Pflegekräfte gewinnen und die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen.
Im Interesse aller Pflegekräfte kann man nur hoffen, dass dies keine dahingeworfenen Almosen und Lippenbekenntnisse sind. Genau das bräuchte die Pflege: angemessene Löhne, gute Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen.
Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung ein Leben lang
Bildung, Investition in die Zukunft, das klingt gut. Jetzt wird es spannend, hier ist sicher der große Wurf zu erwarten. Disclaimer: Jein.
Wir konzentrieren uns auf die Kinder, die am meisten Unterstützung brauchen. Wir wollen mehr Kinder aus Armut holen. In einem Neustart der Familienförderung sollen bisherige Leistungen in einem eigenen Kindergrundsicherungsmodell gebündelt und automatisiert ausgezahlt werden, so dass sie ohne bürokratische Hürden bei den Kindern ankommen
Auch das klingt erst einmal gut, bis man merkt, dass auch hier wieder nichts Konkretes genannt wird. Man würde gerne wissen, wie genau man das gute und richtige Ziel erreichen möchte, bekommt hierfür aber keine Antwort im Sondierungspapier. Und auch im Rest dieses Abschnittes hat man nach dem Lesen mehr Fragen als Antworten. Gewollt wird hier ganz viel: Digitalisierung des Bildungswesens, gezielte und dauerhafte Unterstützung von Schulen in benachteiligten Regionen und eine Verankerung von starken Kinderrechten im Grundgesetz. Insbesondere bei Letzterem wäre es sinnvoll gewesen, zumindest Beispiele dafür zu nennen, was einem denn da explizit im Grundgesetz fehlte.
Innovation fördern und neue Wettbewerbsfähigkeit erreichen
Hauptthema dieses Abschnitts ist der Wirtschaftsstandort Deutschland. Wer sich hier mehr erhofft hat als noch mehr Buzzwordbingo und Marketingplattitüden, wird, wie von vielen weiteren Teilen des Sondierungspapiers, herbe enttäuscht sein.
Wir werden Unternehmen und Beschäftigte bestmöglich unterstützen, Innovation fördern und neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum schaffen. Dazu stärken wir die StartUp- und Gründerförderung und entbürokratisieren die Innovationsförderung und -Finanzierung.
StartUps, Gründerförderung, Innovation, alle Buzzwords, die man an der Stelle gerne dabei hätte, sind vertreten. Wie genau man da fördern möchte: wir werden es bis zu den Koalitionsverhandlungen vermutlich nicht erfahren. Das enttäuscht ein wenig, denn gerade die Wiederherstellung deutscher Wettbewerbsfähigkeit wäre ein Punkt, mit dem man sich in der Bevölkerung viel Rückenwind erarbeiten könnte und mit dem man frühzeitig für sich werben könnte. Stattdessen bleibt es auch hier leider völlig unkonkret. Die Buzzwords täuschen darüber auch nur bedingt bis gar nicht hinweg: das klingt alles gut und all die großen Worte, die man erwartet, sind dabei. Da müssen also Fachleute am Werk sein, die werden schon wissen, was sie tun. Das mag vielen genügen, mich hinterlässt es mal wieder fragend, wartend, wollend.
Offensive für bezahlbares und nachhaltiges Bauen und Wohnen
Der Abschnitt ist im Sondierungspapier relativ lang, nicht kürzer als viele andere. Er lässt sich spannenderweise auf zwei relativ kurze Sätze herunterbrechen:
Man möchte mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und das dadurch erreichen, dass man viel baut. Wie das magisch bezahlbaren Wohnraum entstehen lassen soll, wenn bereits jetzt viel Wohnraum leer steht, weil ihn sich eben keiner leisten kann, erklärt das leider nicht.
Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie
Schon in der Überschrift des Abschnitts sträuben sich mir direkt die ersten Nackenhaare: Gleichstellung. Man möchte Gleichstellung, statt Gleichberechtigung. Das halte ich für den falschen Weg. Jeder, ungeachtet des Geschlechts, der Herkunft, der Religion oder Hautfarbe soll dieselben Rechte und Möglichkeiten haben. Das wiederum ist Gleichberechtigung, nicht Gleichstellung. Der Unterschied ist wichtig, denn während Gleichberechtigung für Chancengleichheit und dafür sorgt, dass jeder, der sich bemüht und etwas dafür tun möchte, dasselbe erreichen und sich erarbeiten kann, sorgt Gleichstellung lediglich für eine Umschichtung des Problems, aber nicht für eine Lösung. Arbiträre Quoten lösen keine Probleme, sondern schaffen neue.
Jede und jeder in Deutschland soll sich sicher fühlen – ob auf der Straße, zu Hause oder im Netz. Dafür kommt es vor allem auf mehr präventive Sicherheit an. Dazu brauchen wir motivierte, gut ausgebildete und ausgestattete Polizistinnen und Polizisten.
Das ist, zunächst einmal, geschickt formuliert. Sich sicher und gut aufgehoben zu fühlen ist etwas Gutes, das möchte jeder. Auch kann man nicht viel gegen eine motivierte, gut ausgebildete und gut ausgestattete Polizei sagen: jeder Bürger wirde davon profitieren, wenn Polizisten angemessen bezahlt und vernünftig ausgebildet und ausgestattet werden. Sorgen machen wir hier am Meisten Zusätze wie „zu Hause oder im Netz“ und vor allem der Satz „Dafür kommt es vor allem auf mehr präventive Sicherheit an.“. Was ich hier herauslese, besorgt mich zutiefst, denn ich lese hier eben nicht nur hehre Wünsche und noble Ziele heraus, sondern auch direkt NetzDG, Uploadfilter und Zensur. Das hat man bisher schon nicht gut und vernünftig gemacht und wenn ich ehrlich bin, traue ich das auch einer Ampel nur bedingt zu. Wir brauchen ganz sicher nicht noch mehr oder schärfere Regelungen in diesen Bereichen, sondern weniger und stattdessen vernünftige.
Bei der Entschlossenheit den Extremismen gegenüber wiederum fühle ich mich ausreichend vom Statement des Sondierungspapiers abgeholt, welches selbst den ansonsten selten explizit als Problem genannten Islamismus miterwähnt. Man hat sich hier die Mühe gemacht, eine Menge Ismen explizit zu benennen und das muss man schon auch mal lobend anerkennen.
Am Ende des Abschnitts kommt dann auch noch ein kurzer Teil zum Wahlrecht, welches man ändern möchte, um ein weiteres Anwachsen des Bundestags einzugrenzen. Und man möchte das Wahlalter für die Bundestagswahl und die Europawahl auf 16 herabsenken. Die Piratenpartei dürfte das freuen.
Zukunftsinvestitionen und nachhaltige Staatsfinanzen
Auch in diesem Abschnitt hoffen wir leider vergeblich auf Konkretes. Immerhin: Steuererhöhungen in den Bereichen Einkommenssteuer, Unternehmenssteuer und Mehrwertsteuer sind nicht vorgesehen und man möchte die Konjunktur über sogenannte „Superabschreibungen“ für Investitionen in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung ankurbeln. Sehr viele Buzzwords, sehr wenig Konkretes.
Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt
Dieser letzte Abschnitt des Sondierungspapiers ist einer, mit dem ich Probleme habe. Er ist ausführlicher und „inhaltlicher“, als die meisten Abschnitte davor. Man hat hier viel geschrieben und zwar auch wieder wenig gesagt, aber das, was man gesagt hat, hinterlässt mich verwirrt. Von einer Verantwortung Deutschlands für Europa und gar die ganze Welt ist die Rede. Mit der Chuzpe und der Selbstsicherheit einer Weltmacht geht man davon aus, dass Deutschland in der Verantwortung stünde, hier Großes zu bewegen. Das wäre ja für mich in Ordnung, wenn man die eigene Kiste wenigstens schon mal sauber gehalten bekäme. Das ist aber leider gar nicht der Fall.
Man möchte die EU handlungsfähiger machen. Natürlich sagt man auch hier wieder nicht konkret, wie das geschehen soll. Das ist auch gut so, denn von jemandem, der selbst nur bedingt handlungsfähig scheint, würde ich mir als EU auch nicht erzählen lassen, wie man mich handlungsfähig bekommt. Wie kommen wir denn dazu, zu glauben, wir seien berechtigt und befähigt, hier die Leitkultur zu diktieren? Wenn wir uns anschauen, wie Deutschland Probleme wie die Corona-Pandemie oder die Flutkatastrophe in Ahrweiler angegangen ist, müssen wir doch zugeben, dass wir selbst weitestgehend im Chaos schwimmen. Wer selbst im Chaos schwimmt, hat aber nicht das richtige Rüstzeug, das Chaos der EU zu entwirren und schon gar keinen Anspruch. Natürlich geht es Deutschland insgesamt im Vergleich ganz gut und besser als vielen Anderen und natürlich versinken wir als Land gar nicht komplett im Chaos. Aber machen wir es wirklich gut genug, um uns als diejenigen aufspielen zu können, die alle Anderen retten sollen? Das packt das Problem von der falschen Seite an. In der Regel sollte man erstmal den eigenen Hof vorzeigbar gekehrt haben, bevor man anderer Leute Höfe kritisiert.
Abschließendes Fazit zum Sondierungspapier als Ganzem
Die Skepsis, die ich der Ampelkoalition gegenüber von Anfang an hatte, bleibt. Das Sondierungspapier konnte diese nicht beiseite fegen. Es gibt ein paar Dinge, die bei einer Beteiligung von SPD und Grünen auf dem Tisch lagen, die zum Glück nun nicht mehr auf dem Tisch liegen. Das ist positiv zu werten. Dass die Einkommenssteuer und Mehrwertsteuer nicht erhöht werden sollen, ist durchaus positiv zu werten, ebenso wie die Anhebung des Mindestlohns auf 12€. Je nachdem, wie man sich das nun vorstellt und wie es finanziert und bewerkstelligt werden soll, kann die Sache mit dem Bürgergeld als Alternative zu Hartz IV eine gute Sache sein. Hier genügen mir allerdings Buzzwords und Plattitüden nicht; hier braucht es klare, eindeutige Konzepte und klare Ansagen dazu, wie das genau funktionieren soll.
Der generelle Fokus liegt bei vielen der Abschnitte auf Digitalisierung, Investition in die Zukunft und Entbürokratisierung. Das sind richtige, gute Ziele und Dinge, die mir besonders am Herzen liegen. Hier kann man, wenn man es richtig anstellt, viel erreichen und Vieles verbessern. Wenn man dran bleibt und den Worten auch Taten folgen lässt.
Das Tempolimit, meines Erachtens Ausdruck eines sinnfreien Aktionismus und reine Symbolpolitik ohne wirklichen Hintergrund und Wirkung, ist – vorerst zumindest – vom Tisch und das werte ich durchaus positiv.
Alle drei beteiligten Parteien haben grundsätzlich gezeigt, dass sie bestrebt sind, andere und neue Wege zu gehen. Ich möchte ihnen das auch gern abkaufen, aber sie hätten es mir leichter gemacht, hätten sie etwas weniger mit Konkretem gegeizt. Ich sagte es bereits mehrfach: es ist klar, dass ein Sondierungspapier etwas Anderes ist, als ein Koalitionsvertrag oder eine Regierungserklärung. Für meinen Geschmack enthält es allerdings selbst für ein Sondierungspapier zu wenig Konkretes und dass ich bei so gut wie jedem Punkt in Gedanken ein „Ja, ok, aber wie wollt Ihr das schaffen?“ im Hinterkopf habe, ist kein gutes Zeichen. Auch hätte ich persönlich mir eine klarere, deutlichere liberale Linie gewünscht. Vereinzelt wurden liberale Akzente gesetzt, aber gefühlt hat sich die FDP hier unter Wert verkauft und hätte, als Mehrheitsbeschaffer, mehr herausschlagen können und müssen.
Wir werden nun warten müssen. Warten auf Koalitionsverhandlungen, tatsächliche Konzepte und auf Antworten auf die Frage „Ich will da schon auch hin, aber wie kommen wir da hin?“. Insgesamt reist man hier bei der Ampel bislang eben noch mit leichtem Gepäck. Man will zusammen verreisen, weiß aber noch nicht so recht, wie das klappen soll und das merkt man dem Sondierungspapier auch an.
[1] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Sonstiges/20211015_Ergebnis_Sondierungen.pdf
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂