Autor: Silke Dürrhauer
In der Diskussion um Wikileaks verlaufen die Grenzen zwischen Wikileaks-Befürwortern und -Gegnern nicht entlang der sonst üblichen ideellen Demarkationslinie: Markus Beckedahl (Netzpolitik.org) erklärte etwa, dass die Angriffe auf die Infrastrukturen von Visa, Mastercard, etc. so elegant seien wie eine Plünderung als Protestform. Ein Argument wie aus dem konservativen Lager? Mitnichten. Denn es ist diesmal nicht ganz so leicht, Position zu beziehen, weil der Krieg um den Wert der Öffentlichkeit mit offenen Fragen geführt wird. Wer sind die tatsächlichen Akteure? Was sind die Ziele? Was werden die Konsequenzen sein?
Zunächst klingt alles ganz logisch. Wikileaks fordert: „Help Wikileaks keep governments open“ und: „If you believe democracy und transparency go hand in hand, now is the time to stand and say: ‚The world needs Wikileaks‘“. Mit dieser Philosophie veröffentlicht Wikileaks seit 2006 mehr oder minder geheime Dokumente, die von geschichtlicher, ethischer oder politischer Relevanz sind. Damit entspricht Wikileaks der Forderung nach mehr Offenheit in der Politik, frei zugänglichen Informationen und einer Rückbesinning auf die ursprüngliche Bedeutung von „Demokratie“.
Die leidenschaftliche Diskussion und die teilweise euphorische Begeisterung für die Wikileaks-Idee sagt viel darüber aus, wie unzufrieden die Bevölkerung bereits ist. Wie eng sind Wirtschaft und Politik wirklich miteinander verzahnt? Kurzum: Es besteht ein Bedarf nach Wikileaks. Insofern verwundert es nicht, wenn nicht nur Netzaktivisten Julian Assange zum weißen Ritter der wahren freien Welt deklarieren. In die Diskussion greifen jedoch auch radikale Netzaktivisten ein. Sie nutzen ihr technisches Know-how, um der vermeintlichen Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen, indem sie wikileaksfeindliche Institutionen bis zum Zusammenbruch mit Anfragen bombardieren. Ist das nicht ein radikaler Schritt aus dem Glauben heraus, dass die herkömmlichen Protestformen wirkungslos verpufften?
Wikileaks selbst bleibt nicht frei von Kritik: Der Gründer Julian Assange gilt als hochintelligent, eigen, getrieben. Die Vorwürfe reichen von Selbstinszenierung, mangelnder Transparenz, bis zu sexuellen Verbrechen. Dass es sich dabei um eine Hetzkampagne handeln könnte, scheint nicht unmöglich, aber das kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen. Assange selbst, so schreibt die Süddeutsche, „heizt die Stimmung bis ins Hysterische an und droht (…) unverhohlen den Strafverfolgern mit einer Flut von schädigenden Veröffentlichungen. Das ist kein Selbstschutz, das grenzt an Erpressung.“
Im Fall Wikileaks müssen wir uns ehrlich damit auseinandersetzen, was uns Öffentlichkeit bedeutet und welche Werte wir für wichtig erachten. Wie wir „Demokratie“ und „Freiheit“ priorisieren, mit welchen Mitteln wir uns dafür einsetzen und welche Konsequenzen wir tragen wollen. Wir müssen uns bewusst sein, dass unsere Antworten weitreichende Konsequenzen haben können. Deshalb braucht es auch unbequeme Fragen: Soll eine Demokratie alles wissen oder benötigt sie Geheimnisse? Welche Priorität hat whistle-blowing (engl.: „Nestbeschmutzung“, die unerlaubte Weitergabe von geheimen Informationen) für eine demokratische Gesellschaft? Wie groß ist eigentlich die Macht Assanges – mit einem Instrument wie Wikileaks?
In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen steht, dass jeder das Recht auf Meinungsfreiheit und -äußerung hat. Das schließt auch ein, Informationen und Gedankengut über Medien jeder Art aufzusuchen, zu empfangen und zu verbreiten.
Es beinhaltet aber nicht, dass – wie im Fall der radikalen Netzaktivisten – gedroht und Schaden angerichtet werden darf. Doch genau das ist geschehen. Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn „Schadensmaximierung mittels technischer Hilfsmittel das Eintreten von Bürgern für bestimmte Positionen ersetzt“? Der Spiegel bezeichnet das als „Rüstungslogik“. Für die demokratischen Gesellschaften könnte das einen Rückschlag bedeuten:
Die Reaktion der US-Regierung zeigt, dass sie Wikileaks scheinbar die Rolle des Züngleins an der Waage zutrauen, und tatsächlich scheint Wikileaks das Potenzial zu haben, die aktuelle Weltordnung – zumindest teilweise – in Frage zu stellen. Aber was kommt danach? Zumindest kurzfristig ist eine Entwicklung absehbar: Schwebte bisher bereits die Einschränkung der Grundrechte wie ein Damoklesschwert über den demokratischen Staaten, so bleibt zu befürchten, wie die Politik nun auf die Angriffe reagiert. Wie wir weiter verfahren, hängt auch davon ab, wie ernsthaft wir unsere offenen Fragen beantworten.