In Tunesien ging das Volk auf die Straße. Anfangs ging es nur um Brotpreise und fehlende Berufsaussichten. Den Kopf des Regenten forderte niemand. Doch wollte die Straße das Recht auf politische Mitsprache. Als der Herrscher sich dem verweigerte und seine Prügeltruppen auf die Demonstranten hetzte, hatte er nur noch wenige Tage zu regieren. Wir hier in Europa rieben uns verwundert die Augen: in Tunis wurde nicht etwa der Gottesstaat ausgerufen, sondern die Demokratie, Parteienpluralität, die Islamisch Demokratische Union sozusagen. Dabei glaubten wir viele Jahrzehnte lang zähneknirschend den Diktator unterstützen zu müssen, da sonst die religiösen Fanatiker das Land übernehmen – Pustekuchen!
In Stuttgart demonstrierten viele Büger gegen den neuen Bahnhof, politische Selbstherrlichkeit und die Mitnahmementalität der Regierungsmitglieder. Den Kopf des Regenten forderte niemand. Der Herrscher ließ Wasserwerfer auffahren und Demonstranten aus der Innenstadt prügeln. Die Polizei zeigte gefälschte Videos von Demonstranten, die sich an friedlichen Polizisten vergingen. Die halbstaatliche Presse, Stuttgarter Zeitung und SWR, verbreiteten Schönwetterbilder der Regierungskaste und Zukunftsvisionen der Landeshauptsadt. Blühende Bahnhofsvorplätze, wenn man so will, ganz ohne Obdachlose und Drogendealer. Als dann die Bürger beschwichtigt waren, rief der Regierungschef die Konterrevolution aus: ein schwerverletzter Demonstrant wurde als unbelehrbarer Protestierer hingestellt, den nicht einmal die Polizei vor sich selbst schützen konnte. Als diese Sichtweise keinen großen Protest auslöste, machte man sich an die Marginalisierung der außerparlamentarischen Opossition: das Verbot des Kultusministerium, Parteien zu Podiumsdiskussionen zuzulassen, die nicht im Landtag sitzen.
Baden-Württemberg hat das undemokratischste Wahlgesetz in ganz Deutschland. Die Hürde zur Wahlzulassung liegt extrem hoch: 150 Unterschriften pro Wahlkreis sowie je einen Direktkandidaten müssen Parteien vorweisen, die noch nicht im Landtag vertreten sind. Bis zur Wahl 2006 gab es noch mehr zu bemängeln: beispielsweise unterschiedlich große Wahlkreise, womit der Dorfbewohner mehr Stimmgewicht hatte als der Städter (weitere schwäbische Spezialitäten hier). Klare Regeln, doch wen sie stützen ist klar!
Mit dem hilflosen Versuch des Kultusministeriums, kleine Parteien aus den Schulen rauszudrängen, verpasste sich die CDU selbst ein Verliererimage. Das Argument, dann müsste man auch die anderen einladen und ihnen das gleiche Forum bieten, lässt doch nur noch müde lächeln. Denn Hand aufs Herz: wer hat noch Angst vor dem oft bemühten braunen Schreckgespenst? Es wirkt so abgenutzt wie die Warnung vor Islamisten, wenn im Maghreb das Volk nach Demokratie ruft! Wenn sich Herr Mappus in Interviews um Politikverdrossenheit sorgt und mehr Bürgerbeteiligung wünscht, meint er einzig: mehr Bürgerapplaus für das Programm der CDU. Wenn sich dieser Politikstil durchsetzt, lässt Mappus bei der nächsten Demonstration nicht nur Wasserwerfer auffahren – nein, er gibt den Mubarak!
Das gilt es zu verhindern. Wir Piraten haben die Hürde zur Wahlzulassung genommen. Dank der Grünen fand sich auch eine Möglichkeit, wie wir Piraten unsere Kandidaten doch aufs Podium bringen. Jetzt wollen wir in den Landtag! Doch aus Tunesien hörten wir: Revolutionen werden nicht via Twitter gewonnen. Für Deutschland bedeutet das: Wahlen werden nicht via Twitter gewonnen. Die Lehre daraus: Runter vom Sofa und rein ins Wahllokal. Die Jungen wählen Piraten, damit sie ihre Zukunft selbst gestalten können. Und die Alten wählen Piraten, weil sie es der Zukunft ihrer Enkel schulden!
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.