Mögest Du in interessanten Zeiten leben – dieser altchinesische Fluch klingt zunächst etwas widersprüchlich. Warum sollte es besser sein in langweiligen Zeiten zu leben, wäre hier die Umkehrfrage. Doch lässt sich leicht erklären, was mit diesem Sprichwort gemeint ist: „Interessante Zeiten“ sind historisch betrachtet, Zeiten in denen viel passiert ist. Damit sind zum Beispiel Kriege, Umstürze, im Allgemeinen also Aufruhr und eine daraus resultierende neue Situation gemeint, mit der die Menschen klarkommen müssen.
Uns Mitteleuropäer betreffen Kriege und Umstürze meistens nicht persönlich, wir können oft nur berichten und beobachten wie andere Menschen „interessante Zeiten“ erfahren müssen.
Doch sind es nicht nur blutige Umstürze, die Auflehnung des Volkes gegen ein Unrecht (wie bspw. in Tunesien oder Ägypten), Krieg und Underdrückung, die einen historischen Wendepunkt in einer Gesellschaft bedeuten. Diese Art der Umstürze sind vielmehr die sich direkt und drastisch auswirkenden Beispiele einer Veränderung – wohl auch die schrecklichsten, da viele Menschen verletzt oder gar getötet werden.
Im Kleinen geht so etwas auch. Diese schleichenden Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft würden historisch betrachtet wahrscheinlich auch erwähnenswert sein. Beispiele für solch schleichende Prozesse gab es im vergangenen Jahrhundert zu Genüge, in denen sich eine Gesellschaft verändert und ab einem bestimmten Punkt das Szenario kippt.
Heutzutage lassen sich solche schleichenden Prozesse auch wieder beobachten:
– Die fortschreitende Entmündigung der Bürger seitens der Politik
– Die schwindende Hoheit der Menschen über Ihre Daten und Rechte
– Die Unterordnung der Politik gegenüber Wirtschaftszweigen, Konzernen, Partei- oder Einzelinteressen.
Es verschwimmt heutzutage mehr und mehr, wer für wen da ist: Die Wirtschaft für die Menschen, die Menschen für die Wirtschaft – Die Politik für die Menschen oder die Wirtschaft.
Unsere derzeitige Regierung scheint da jedenfalls eine klare Meinung zu haben. So werden Gönner beschenkt und Vettern bewirtschaftet, während für die Allgemeinheit versucht wird, eine Welt der Angst, der Unsicherheit und der Scheinheiligkeit zu spinnen.
So sollen dann die eigenen Machenschaften gerechtfertigt werden (Terrorangst schüren, um Überwachung voranzutreiben). Rechtfertigungen werden pervertiert (Atomausstieg verhindern, obwohl es immer noch keinerlei sinnvolle Endlagerlösung gibt) oder gänzlich erdacht um zu täuschen (Landesbanken müssen mit Steuern gerettet werden, die Gefahren waren den politischen Kontrollgremien angeblich aber nie bekannt).
Gleichzeitig werden viele Medienberichterstattungen immer unkritischer. Die Qualität nimmt ab. Nicht nur, weil das Internet als ein direkter Konkurrent der traditionellen Berichterstattung auch die Meinung von Privatmenschen weit tragen kann, sondern weil Quote und Aufruhr meist höher geschätzt sind als Qualitätsjournalismus. Die Medien sehen sich zunehmend bedroht von freien Bloggern und Nachrichtenschreibern, ihr einstiges Monopol auf die Wahrheit stürzt langsam ein.
Solche Indizien lassen mich vermuten, dass über unsere jetzige Zeit auch hier in Deutschland irgendwann historisch betrachtet von einer „interessanten Zeit“ gesprochen wird, als Anfang von etwas, das ich heute noch nicht benennen kann.
Ich denke an und hoffe nicht auf Umstände wie in Ägypten oder Tunesien. Die dort kämpfenden Menschen bewundere ich zutiefst für Ihren geäußerten Mut, mit dem sie unter dem Einsatz von Leib und Leben dafür sorgen, dass die dortigen politischen Verhältnisse nicht weiter fortgeführt werden.
Menschen protestieren wieder gegen Unrecht, gegen politische Willkür und gegen Ungerechtigkeit. Die an Unverschämtheit grenzende Arbeit vieler Regierungen hat die Grenze des Ertragbaren für immer mehr Menschen überschritten.
Ich wage nicht zu prognostizieren, wohin all dies führen wird. Ich hoffe, dass Menschen in Ägypten, in Tunesien oder wo auch immer nicht umsonst für das Recht auf Freiheit auf die Straße gegangen sind, dass ihre Kinder von den „interessanten Zeiten“ in Büchern und vor allem von einer besseren Situation aus lesen können.
Ob es nun ein Fluch ist in „interessanten Zeiten“ zu leben, ist für mich nicht zu beantworten, da beispielsweise mein leibliches Wohl nicht unmittelbar bedroht ist. Dieselbe Frage einem Menschen in einer der vielen „Krisenregionen“ dieser Welt gestellt, dürfte ein anderes Ergebnis bringen. Ich riskiere nicht so viel wie ein Ägypter am Tahrir-Platz oder wie ein iranischer Student, wenn ich mich kritisch über meine Regierung äußere.
Die Menschen scheinen sich in Deutschland im Kleinen und Behüteten, oder auch auf der ganzen Welt unter größeren Risiken für interessante Zeiten erheben zu wollen. Es scheint auch hier bei uns mehr und mehr notwendig zu sein dafür zu sorgen, dass die Idee hinter diesem alten Fluch gelebt wird. Immerhin haben wir hier nichts zu befürchten und können nur dazugewinnen.
Mögen wir also doch in interessanteren Zeiten weiterleben.