Von Politikverdrossenheit spricht man in Deutschland seit den 80er Jahren. 1992 wurde der Begriff sogar zum “Wort des Jahres” gewählt. Das Ansehen der Politik sank trotzdem von Jahr zu Jahr. Die Wahlbeteiligung befindet sich seit den frühen 80er Jahren im Sinkflug, Parteien konnten nur wenige Neumitglieder begrüßen, während sie auf der anderen Seite von Austrittswellen geschüttelt wurden. Die SPD verlor zwischen 1990 und 2008 ca. 400.000 Mitglieder, die CDU zählt heute ca. 300.000 Mitglieder weniger als 1992. Die beiden großen Volksparteien verfügen heute über je rund 500.000 Mitglieder, wobei die CDU hier die Nase vorn hat. Kurz nach der Wende hatten knapp 180.000 Bürger ein FDP-Parteibuch. Heute sind es noch etwa 64.000. Ein Stand, der jedoch schon 1999 erreicht war und sich seitdem nicht mehr wesentlich veränderte. Einzig die Grünen legten seit der Erfassung ihrer Mitgliedgliederzahlen ständig zu: von ca. 22.000 im Jahr 1982 auf ca. 58.000 heute.
Doch alle Versuche mehr Nähe zum Bürger herzustellen resultierten im Gegenteil. Während 98% der Deutschen eine hohe Meinung von Feuerwehrleuten haben und 89% Ärzte hoch schätzen, genießen Politiker nur die Achtung von 9% der befragten Deutschen. Zum Vergleich: im Vorjahr waren es noch 14%, davor 17% usw. Und so sank die Wahlbeteiligung ähnlich schnell, wie die Verachtung für den Berufsstand “Politiker” stieg. Besonders dramatisch war der Rückgang der Erstwähler, also jene von den Parteien besonders umworbene Gruppe, die nach Erreichen der Volljährigkeit erstmals an Wahlen teilnehmen darf. Die Alten hörten irgendwann auf zu wählen, die Jungen fingen mit dem Wählen oft erst gar nicht an, denn sie setzten von Anfang an nur geringe Erwartungen in die Politik.
Zu diesem Zeitpunkt betraten die Piraten die politische Bühne. Schon zur Bundestagswahl 2009 gelang es, viele junge Bürger zur Stimmabgabe zu bewegen. Bei der Wahl in Berlin wurde dieser Effekt nochmal verstärkt: 14% der Erstwähler gaben ihre Stimmen der Piratenpartei, auch entschieden sich mehr Erstwähler zur Wahl zu gehen. Auch Nichtwähler ließen sich von den Piraten für eine Stimmabgabe begeistern. Nun spricht die etablierte Politik vom bösen “Protestwähler” und schielt strafend zur Piratenpartei herüber. Doch wenn das Kreuz bei den Piraten die Chance bietet “Protest zu wählen” ohne dass Stimmen an radikale Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums gehen, ist auch das schon ein Erfolg. Nicht nur für die Piraten – auch für die Akzeptanz des parlamentarischen Systems in Deutschland!
Schaut man auf die Zusammensetzung der Piratenwähler und ihrer Kandidaten ergibt sich ein buntes Bild: Akademiker und Arbeitslose, Migranten und Alteingesessene. Beamte, Selbstständige, Handwerker… ein Querschnitt durch die Republik. Seit der Gründung 2006 stieg die Anzahl der Parteimitglieder auf 12.000 an. Diese Zahl wird nach der Wahl in Berlin weiter steigen. Bleibt es beim derzeitigen Trend, wird man die Piratenpartei bald einmal “Volkspartei” nennen. Und als die Partei bezeichnen, die dem Bürger wieder Vertrauen in die Politik gegeben hat.
Man müsste also in der Zeitung lesen “Die Piratenpartei rettet Deutschlands Demokratie”. Denn wir Piraten packten etwas an, wovon andere Parteien höchstens in Sonntagsreden fabulierten: die Politikverdrossenheit.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.