Aus unserer ehemaligen “1-Themen-Partei” erwuchs eine 15-köpfige Fraktion. So viele Piraten sitzen derzeit im Berliner Senat. Gewählt wurden sie von allen Bevölkerungsschichten. Von Arbeitslosen, von Akademikern, Digital Natives und Einwanderern. Von Männern und tatsächlich auch von Frauen, im Osten der Stadt und auch in deren Westen. Von ehemaligen Nichtwählern, auch von vielen Erstwählern. Wir Piraten kaperten Stimmen von der SPD, der CDU, den Linken und den Grünen. Die FDP wurde gar von uns versenkt und die Partei der Nichtwähler nassgemacht.
Doch machen wir uns nichts vor: Diese 8.9% verdanken wir nicht einem rundum schlüssigen Wahlprogramm, sondern der “Rache der Entnervten”. Wir punkteten mit dem Slogan “Wir sind die mit den Fragen” nur, weil die anderen Parteien schon seit langer Zeit zu überheblich sind um Antworten zu geben. Darüber hinaus hatten sie außer dem inzwischen vertrauen “weiter so Deutschland”-Wahlkampf kein Konzept vorzuweisen. Ihre Schwäche war unsere Stärke, während wir eigene Schwächen zu tatsächlichen Stärken erklären konnten.
Bei der Wahl in Berlin waren wir die Partei “des ersten Mals”. Das ist jetzt vorbei. Es ist vorbei in Berlin, es wird am 06. Mai 2012 in Schleswig-Holstein nicht mehr ziehen, und schon gar nicht, wenn 2013 in Niedersachsen, Bayern und Hessen neue Landtage gewählt werden. Von der Bundestagswahl im September 2013 ganz zu schweigen.
Quo vadis?
Bis zu diesen Wahlen müssen wir möglichen Wählern Antworten vorweisen können. Wie halten wir es mit dem Datenschutz und der Spackeria? Reicht es einen Regler irgendwo zwischen diesen Extremen – sagen wir bei 2/3 – einzustellen? Oder müssen wir, man verzeihe mir den abgedroschenen Begriff, differenzierte Lösungen entwickeln? Wollen wir weiterhin den Datenhunger des Staates anprangern, und gleichzeitig Facebook und Google gewähren lassen? Hand auf’s Herz: wie mag unser “Hey, die machen coole Sachen” auf Wähler wirken die schon zusammen zucken, wenn in der Volkszählung gefragt wird, wie viele Personen sich das Badezimmer teilen? Wir überhöhen das Internet und nehmen nur seine Sonnenseiten wahr. Dabei ignorieren wir, dass es durchaus finstere Ecken gibt, in denen mit aller Brutalität Bankkonten geplündert werden, in denen die Spionage blüht, wo ganze Datenbanken kopiert und deren Inhalt meistbietend verhökert wird. Wir betreiben die selbe Schwarz-Weiss-Malerei von der auch die Altparteien nicht weg kommen – nur von der anderen Seite. Sie sehen im Netz nur Gefahren und lassen Chancen ungenutzt. Wir rufen diesen Hardlinern zu “macht euch kundig” und sehen selbst nur das, was wir sehen wollen.
Technik ist neutral, sie kann und wird zum Vorteil sowie zum Nachteil genutzt werden. Diese Erfahrung wurde mit dem Buchdruck gemacht, dem Dynamit und der Atomspaltung. Die digitale Vernetzung reiht sich hier ein. Wir müssen ehrlich aussprechen, was der gesunde Menschenverstand ohnehin suggeriert: den Missbrauch unserer Netze zum Nachteil seiner Benutzer wollen wir nicht ignorieren. Wir lehnen aber auch nichts ab nur weil es auch eine gefährliche Komponente enthält.
Zum geltenden Urheberrecht sowie seiner ständigen Verschärfung fällt uns mindestens so viel Kritik ein wie zum ausufernden Patentwesen. Wir müssen daran arbeiten aus dieser “die machen ja alles immer schlimmer”-Ecke raus zu kommen. Denn noch sind unsere Ideen, wie es denn nun besser ginge, weitgehend unbekannt. Der Eindruck der vermittelt wird ist eher der, dass jeder, der das Urheberrecht verletzt oder ein Produkt fälscht, in unseren Reihen als Robin Hood gilt. Wir müssen den Wählern und auch der Presse selbstbewusst unsere Konzepte erklären – und warum mit deren Umsetzung trotzdem kein Künstler verhungert und kein Unternehmen pleite geht.
Von lila Sonnen und Entzugskliniken
Wir fordern die Entkriminalisierung von weichen Drogen, manche in der Piratenpartei streben sogar eine Legalisierung an. Doch besitzen auch weiche Drogen Suchtpotential. Es gibt bereits Alkoholsüchtige und welche die nicht ohne Nikotin, Internet oder Glücksspiel sein können. Für den Großteil der Konsumenten wird die Freigabe von THC einen positiven Effekt mit sich bringen. Die Freigabe von Marihuana wird aber auch Süchtige produzieren – wer dies leugnet handelt verantwortungslos. Wir müssen auch die Folgen einer THC-Freigabe bedenken. Wir müssen in unsere Forderung auch die Schaffung von Therapieangeboten einarbeiten. Die Abschätzung von Folgen ist ohnehin das Gebot der Stunde. Es darf keine “experimentelle Gesetzgebung” von uns geben. Eine “wir wissen nicht was dann passiert, aber nachbessern kann man immer noch”-Politik will keiner! Aber die Bürger haben das Recht zu wissen, warum wir dieses oder jenes anders machen wollen. Und warum das Leben danach lebenswerter sein wird als zuvor.
Landesverbände vs. den Bund
Wie wollen wir es mit kontroversen Themen halten? Themen, bei denen jeder Landesverband seine eigenen Vorstellungen hat? Das BGE ist ein schönes Beispiel dafür. Die Südpiraten – Bayern, Baden-Württemberg und vielleicht Hessen, also die Geberländer des Länderfinanzausgleichs, sind dagegen. Die Nordpiraten, also die Nutznießer des Länderfinanzausgleichs, sind dafür. In Landtagswahlen mag man mit diesen Unterschieden noch punkten können; spätestens zur Bundestagswahl müssen wir eine (!) Position haben. Diese wird keinen 100% Sieg für die eine oder andere Gruppe darstellen, sondern eine Fortentwicklung des Konzeptes, das auf Durchführbarkeit und Notwendigkeit Rücksicht nimmt.
Frauenquote vs. Gleichstellung
Wir sind als Partei mit einem verschwindend kleinen Frauenanteil bekannt. Woher dieser Unsinn kommt ist unbekannt, dieser Fehlglaube hält sich in der Öffentlichkeit aber beharrlich. Das Geschlecht wird beim Eintritt nicht erfasst, deswegen fällt es schwer eine exakte Zahl zu nennen. Eine Umfrage unter Mitgliedern lässt jedoch einen Anteil von knapp 20% vermuten. Das ist nicht prächtig, doch immerhin lassen wir die CSU weit hinter uns. Was uns – meist junge – Piraten von anderen Parteien unterscheidet ist das Frauenbild, welches wir pflegen! Frauen in der Piratenpartei werden nicht anders wahrgenommen als Männer. Piraten machen keinen Unterschied zwischen den Genen. Weder bei der Hautfarbe, noch bei der Körpergröße oder am Körperumfang! Genau so verhält es sich beim “kleinen Unterschied” zwischen Mann und Frau: ob jemand zwei X-Chromosome besitzt oder ein X- und ein Y- Chromosom ist uns nicht wichtig. Frauen sind bei den Piraten gleichberechtigt, es gibt weder einen Bonus noch Malus für das Geschlecht. Als Messlatte gilt in der Öffentlichkeit aber nicht die 100% Gleichberechtigung, sondern der Frauenanteil in der gesamten Bevölkerung. Und solange wir diese gut 50% Frauenanteil nicht erreichen, müssen wir uns fragen: warum sind wir als Partei nicht ausreichend interessant für beide Geschlechter? Bis diese Frage beantwortet ist, mag die 100% Gleichberechtigungsquote als Gegenargument zur kruden “Männerpartei-These” gelten. Wollen wir hier Humor beweisen, können wir RTL ein neues Sendeformat anbieten: “Pirat sucht Frau”.
Programmentwicklung
Die Grünen waren bis zum Wegfall der Wehrpflicht das Sammelbecken der Kriegsdienstverweigerer. Wir haben es in gewisser Weise einfacher als sie: Grüne mussten schwer dafür kämpfen, dass ihre Hauptthemen, die Ökologie sowie das Friedensbewegte, in der Gesellschaft ankamen. Die digitalen Netze, in denen wir unser erstes Thema fanden, werden auch ganz ohne unser Zutun weitere Verbreitung finden. Wenn wir geschickt sind, sitzen wir auf einem Zug der weiterhin Fahrt aufnehmen wird!
Protestpartei
Was macht eine Protestpartei aus? Eine Partei, die von denen gewählt wird, die nicht CDU/CSU, SPD, FDP, die Grünen oder die Linkspartei wählen wollen? Ja, dann sind wir eine Protestpartei. Oder ist nur der Protestwähler, der seine Stimme einer extremistischen Partei gibt? Die rumschreit, am Deutschen Wesen könne die Welt genesen? Die behauptet, dass die Kraft des Geistes ein Land regieren kann? Eine Partei, die ein Leben im Kollektiv anstrebt? Auch die Linken und die Grünen wurden einst als Protestpartei bezeichnet. Auf die Berliner, die ihre Stimme statt einer radikalen oder esoterischen Partei (oder gar keiner) lieber uns gaben, können wir stolz sein. Ziel muss es jedoch sein, nicht nur politisch Unzufriedene aufzufangen, sondern auch eine realistische Perspektive auf eine andere, eine ehrlichere Politik zu bieten. Diesen Weg beschreiten wir in einer Art Evolution, wir sind keine Revolutionäre.
Der Herr badet gerne lau
Politiker der ersten Reihe brillieren mit geschliffenen Sätzen. Warme Worte, die jedem runtergehen wie Öl – und die wegen ihrer Inhaltslosigkeit sofort wieder vergessen sind. Wir Piraten erreichen medial nicht annähernd dieses Niveau. Unsere Aussagen wirken sperrig, holprig und teils sogar widersprüchlich. In Berlin war dies ein Vorteil, die anderen Landesverbände und auch der Bund sind gut beraten sich die wenig geschliffene Sprache zu bewahren. Wie der Name Piratenpartei ein gutes Stück Selbstironie enthält und auch der Name der Flaschenpost (Wikipedia definiert eine Flaschenpost als “Hilferufe von Schiffbrüchigen”) mit einem Augenzwinkern gewählt wurde. Dafür haben wir Politiker (!), die mit pointierten Aussagen oder Zwischenrufen ein wenig Leben in den politischen Alltag bringen. Auch wenn die Tradition des Zwischenrufs inzwischen nahezu ausgestorben scheint, können wir mit losen, aber niveauvollen Sprüchen einen akustischen Farbklecks in die politischer Gleichförmig- und Austauschbarkeit des politischen Betriebs bringen. “Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem”. Solche Aussagen kommen beim Wähler bestimmt besser an als eine Krawatte mit perfekt gebundenem doppelten Windsorknoten.
Alles an Deck
Wollen wir bei den nächsten Wahlen ähnliche Ergebnisse wie die 15 in Berlin erreichen, muss man uns als “die mit den Antworten” wahrnehmen. Wie der Feigensenf nur am Käsestückchen haftet, wenn dies ausreichend Substanz besitzt und (!) an der Oberfläche rauh genug ist, müssen wir Piraten an unseren inneren Werten und (!) unserer Außenwirkung arbeiten. Der Einzug in die Parlamente ist keine Selbstverständlichkeit. Erledigen wir unsere Hausaufgaben, können wir den nächsten Wahlen jedoch zuversichtlich entgegen blicken. Gelingt es dann wieder, Wähler aus allen Bevölkerungskreisen zu gewinnen und weiterhin auch Nichtwähler zu aktivieren, werden wir endgültig zur Volkspartei!
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.