Am vergangenen Wochenende war es wieder soweit: In der Jugendherberge Kassel fand die Open Mind 2011 statt. Das Thema war dieses Jahr “Let’s go exploring” – und eine Entdeckertour war es wahrlich.
Los ging es – wie im letzten Jahr – mit einer visionären Keynote von Marcel-André Casasola Merkle (zeitweise). Er sprach über die Entwicklung der Piratenpartei, den Idealismus und die berühmten 8,9%.
In seinem Vortrag zur Gesellschaftlichen Singularität entwarf mspro seine Vision der Entwicklung unserer Gesellschaft. Mit jeder neuen Technik gab es einen Bruch in der Kultur und eine Art, wie die Gesellschaft diesen verarbeitet. Die Frage stellte sich, wie die Gesellschaft das Internet und die Möglichkeiten, die es bietet, verarbeiten kann. Sein Fazit: Das Leben wird zur Query. Algorythmen werden immer wichtiger, ohne die richtige Suchroutine sind die Menschen verloren. “Der Kühlschrank bestellt sich seine Milch selbst und das Bett bestellt den passenden Sexualpartner.” Das sorgte selbstverständlich für eine rege Diskussion – ließ aber mehr Fragen offen als es beantwortete. Aber das gehört bei Visionen wohl dazu – ob genau diese Utopie wirklich wünschenswert ist, darf bezweifelt werden. Nachdenklich hat sie in jedem Fall gemacht.
Jens-Wolfhard Schicke (Drahflow) referierte zur Infrastruktur ohne Staat. Er brachte in einem Schnelldurchgang den Zuhörern die Geschichte derEntwicklung des Geldes näher, und erläuterte nebenher mit Leichtigkeit in einem Exkurs, warum Zinsen nicht böse sind. Die Diskussion im Anschluss drehte sich um alternative Währungsmodelle und die Frage, was geschähe wenn der Staat Bitcoinsals Währung akzeptieren würde.
Der nächste Programmpunkt war ein Barcamp von und mit Julia Schramm zum Thema “Genderpopender”. Hier kommen wir zur ersten Definition. In einer Gruppe, die wohl größer war als die Zuhörer in beiden parallel laufenden Vorträgen, versuchten wir den Begriff “Equalismus” mit Leben zu füllen. Es gab eine spannende Diskussion darum, was bei Piraten eigentlich das Problem ist. Hassen wir Feministinnen? Warum fühlen wir uns von der Forderung nach einer Quote eigentlich angegriffen, und wie können wir definieren, was uns anders macht? Das Ziel war die mögliche Erstellung eines Programmantrages für den Bundesparteitag, um die Genderfrage endlich auf Piratenart zu beantworten.
Mit Diskussionen um Definitionen ging es weiter bei Fabio Reinhardt und seinem Vortrag zum Themaa “2 wings to fly”. Es ging um die Frage, ob die Piratenpartei Flügel hat, ob diese notwendig sind, wo sie schaden und wo sie nutzen können. Erstaunlicherweise gab es unter den Diskutanden einen breiten Konsens (auch wenn einige trotzdem hitzig diskutierten). Es zeichnete sich aber ab, dass es bereits Gruppen innerhalb der Piratenpartei gibt, und das daher nicht darüber entschieden werden kann, ob sie erwünscht sind oder nicht. Auch eine Zuordnung ist nahezu unmöglich, da sich die verschiedenen Gruppierungen an Themengrenzen unterscheiden, und nicht an Themenblöcken. Pro und contra BGE, Spackeria und Aluhüte: Allein die Namen zeigen die Unterschiede. Interessanterweise – und wohl im Gegensatz zu anderen Parteien – variiert die Gruppenzusammensetzung je nach Thema, die Zugehörigkeiten sind keineswegs deckungsgleich.
Die letzte Definition des Tages regte Andi Popp an mit seinem Beitrag zur Frage “Demokratisch oder nicht?” Er lieferte eine großartige Diskussionsgrundlage dafür, unser individuelles Demokratieverständnis zu definieren. Demokratie ist eines der höchsten Güter der Piraten, und zugleich eines der umstrittensten. Ist es demokratisch, wenn alle Mitglieder, die es sich leisten können, auf dem Bundesparteitag abstimmen? Wäre ein Delegiertensystem demokratischer oder nicht? Und wie steht es mit Liquid Feedback, wenn dank dem “Maha-Effekt” einzelne plötzlich allein Entscheiden können? Demokratie setzt sich aus verschiedensten Aspekten zusammen und erst die persönliche Wertung und Präferenz dieser Aspekte stellt den individuellen Demokratiebegriff. Die Diskussion war spannend und ein klarer Auftrag, diese wichtige Definition zu bewerkstelligen – um in Zukunft genauer zu wissen, was wir eigentlich meinen, wenn wir Demokratie fordern.
Der Abend wurde beschlossen mit einer Podiumsdiskussion zum Thema “Autonomie durch Technologie”. Mspro, Julia Reda, Julia Schramm und Jörg Friedrich stellten sich dem Thema. Nach den vielen interessanten Diskussionen vorher wirkte das Podium eher wie seichtes Geplätscher – aber das war vielleicht genau richtig, um bei einem Glas Wein die am Tag gesammelten Gedanken Revue passieren zu lassen.
Der Sonntagmorgen begann mit einem großartigen Beitrag von Anatol Stefanowitsch zur Zukunft der Wissenschaft im Post-Guttenberg-Zeitzalter. Wie kann wissenschaftliche Qualifikation sichergestellt werden, wie Plagiarismus unterbunden – und warum gibt es eigentlich den Doktortitel? Welche Begehrlichkeiten sorgen dafür, dass er so umkämpft ist – und wie kann man verhindern, dass er erschlichen wird, nur um das Kürzel am Namen zu haben? Stefanowitsch stellte ein interessantes System vor, eine Art “Liquid Science”: Open Access in Verbindung mit dichter Vernetzung und gegenseitiger Partizipation. Ein Punktesystem, dass über einen Algorythmus zu wissenschaftlicher Reputation führt, die man nicht einfach erschleichen kann. Allerdings wäre dieses System ohne die Querys von mspro wohl verloren. Interessant fand ich die Frage, welche Auswirkungen das System auf die Bildung und die “Lehrmeinung” hätte. Ich hoffe sehr auf einen weiteren Betrag auf der #om12 dazu!
Geendet hat die Open Mind für mich mit einer weiteren Definitionsfrage: Auf einem Barcamp mit Christopher Lauer zur Frage, wie man abwägen kann zwischen Idealen und parlamentarischer Realität. Ich hatte mir mehr von der Diskussion versprochen – leider blieb sie weitestgehend ohne Ergebnis, es war vielmehr ein wildes Brainstorming von Meinungen. Aber vielleicht gerade darum eine wichtige Anregung, Grenzen zu definieren. Viel drehte sich um die Frage, was Transparenz eigentlich ist, wie man sie umsetzt und wo sie Grenzen hat. Muss alles gestreamt werden, sollte es Zusammenfassungen geben oder kann man diese Arbeit dem Bürger überlassen? Und wenn man zusammenfasst, wie ist dann Objektivität gegeben? “Raw data now” war ein wichtiges Schlagwort. Außerdem ging es viel um die Frage, wie sich die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus verhalten sollten, wenn ihre Ideale und die Realität einmal nicht vereinbart sind. Es steht zu hoffen, dass die Parlamentarier den Input bekommen haben, den sie brauchen um diese Entscheidungen für sich treffen zu können. Es wurde in jedem Fall klar, dass zu diesen Themen noch viele Diskussionen notwendig sind: Es besteht noch lange kein Konsens über diese Grundbegriffe innerhalb der Partei. Und solange diese Definition nicht gegeben ist, laufen wir Gefahr in der Realität über unsere eigenen Ideale zu stolpern.
Alles in allem war die Open Mind 2011 ein vollster Erfolg. Es gab viele interessante Diskussionen, visionäre Vorträge, große Ideen – und viel Raum für mehr Ideen, die uns auf der Open Mind 2012 begegnen könnten. Ein herzlicher Dank geht an das Orgateam, dass dies möglich gemacht hat und jeden, der seine Gedanken, Definitionen, vor allem aber Visionen beigesteuert hat.