In naher Zukunft werden achtzehn weitere Abgeordnete in das Europäische Parlament einziehen. Von diesen achtzehn neuen Sitzen gehen zwei an Schweden und damit einer an Amelia Andersdotter. Sie war bei der Europawahl 2009 für die Piratenpartei Schweden angetreten und wird nach 2,5 Jahren bald zusammen mit Christian Engström für die Piratenpartei Schweden im Europäischen Parlament sein. Dazu hat die Flaschenpost sie interviewt.
Flaschenpost: Warum ziehst du erst jetzt in das EU-Parlament ein und nicht schon vor 2,5 Jahren?
Amelia Andersdotter: Vor zweieinhalb Jahren, bei den Europawahlen in 2009, war das Zusatzprotokoll zum Lissaboner Vertrag, welches mir meinen Sitz ermöglichte, noch nicht in Kraft.
Diese Protokolle ähneln etwa den EU-Statuten. Sie erläutern wie Entscheidungen entstehen, auf welchen Gebieten und durch wen. Im Dezember 2009, 6 Monate nach den Europawahlen, wurden die Statuten der EU durch den Vertrag von Lissabon geändert.
Der Vertrag von Lissabon erweitert die Anzahl der Sitze im Parlament und verändert auch die Art und Weise der Verteilung der Sitze zwischen den Mitgliedsstaaten.
Bisher ergab sich die Anzahl der Sitze im Parlament linear zur jeweiligen Einwohnerzahl des Landes. Zukünftig erhalten größere Mitgliedsländer etwas weniger Sitze und dafür kleiner ein bis zwei Sitze mehr. Schweden wird 2 zusätzliche Sitze erhalten und ich bin für einen davon vorgesehen.
Die Frage was zwischen Dezember 2009, dem in Kraft treten des Vertrags von Lissabon, und heute passiert ist ist etwas schwieriger zu beantworten.Grundsätzlich haben einige der Mitgliedsstaaten, die von der Änderung der Statuten des Europäischen Parlamentes betroffen sind, keine angemessenen demokratischen Werkzeuge um mit diesen Änderungen auf der Landesebene umzugehen.
Das verursachte in einigen Mitgliedsstaaten verfassungsrechtliche Probleme und es hat lange gedauert diese zu bereinigen.
Es ist schwierig, denn auf der einen Seite hat die Europäische Union viele Vollmachten und das Versagen der EU, die demokratischen Reformen der Lissaboner Verträge zügig umzusetzen, ist ein Versagen aller Europäer. Weniger Zeit für die Überwindung der konstitutionellen Probleme in den einzelnen Mitgliedsstaaten einzuräumen hätte auf der einen Seite zwar weniger Menschen betroffen wäre aber ein vergleichbares Versagen der demokratischen Rahmenbedingungen gewesen.
Flaschenpost: Was werden deine Rechte und Pflichten als EU-Parlamentarier sein?
Amelia Andersdotter: Technisch gesehen sind die EU-Parlamentarier gewählt um ihren “Wahlbezirk” zu repräsentieren, welcher in meinem Fall Schweden ist. Die Repräsentativität meines Sitzes ist in rechtlicher Hinsicht so sehr stark mit Schweden und der schwedischen Wählerschaft verknüpft. Persönlich sehe ich dies als Problem, da MdEP (Mitglied des Europäischen Parlaments) momentan keine Entscheidungen nur für ihre Wählerschaft sondern für alle Bürger Europas treffen. Ich bin ein Anhänger der Idee, dass MdEP über ihre Herkunft hinaus schauen und das machen, was am Besten für Europa und alle Bürger Europas ist.
Glücklicherweise ist das Parlamentarier sein so etwas wie ein freier Beruf, denke ich, also kann ich meine Rolle einfach so definieren, dass ich Europa und nicht nur Schweden repräsentiere.
Die Pflichten der Parlamentarier beinhalten die Repräsentation ihrer Wähler in Kommiteetreffen, während der Plenarien in Straßburg und bei Gesetzesabstimmungen. Natürlich hängt das auch davon ab, ob man diese Pflichten als Pflichten gegenüber dem Gesetz oder gegenüber dem gesellschaftlichen Gewissen versteht. Die Rechte von Parlamentariern beinhalten, soweit ich es verstehe, zum Beispiel keine diplomatische Immunität – ich kann nicht, wie es einmal war, straffrei Kaugummis klauen. Ich denke ich könnte Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreiten, wenn ich auf dem Weg zu wichtigen Treffen bin, aber nicht einfach so in meiner Freizeit.
Flaschenpost: Wofür wirst du dich im EU-Parlament einsetzten?
Amelia Andersdotter: Die Europäische Einstellung zum Wettbewerbsrecht muss geändert werden, zumindest ein wenig. Eine bessere Adaption der einzelnen Bereiche – zum Beispiel die fehlende Kontrolle über vertikal integrierte Anbieter verursacht die Situation, dass Telekommunikationsunternehmen (oder Medienriesen) alles gehört, von den Kabeln bis zum Musikstreamingservice – das ist nicht gut. Man sollte zumindest eine Verpflichtung erwarten, die einzelnen Bereiche auseinanderzuhalten. Derzeit wird diese Art der Bündelung – besorgniserregenderweise – eher unterstützt als reguliert, was für eine unfaire Verteilung zwischen den Besitzern der Infrastruktur und ihren Nutzern sorgt. Wettbewerbsrecht beschäftigt sich im Moment hauptsächlich mit horizontaler Integration, zum Beispiel mit der Firma, der alle Kabel im Norden Belgiens gehören (Telenet). Der Telekommunikationssektor hat schon eine Menge guter Gesetze (zum Beispiel das Gesetz zur Netzneutralität in den Niederlanden), aber im größeren Teil von Europa müssen diese noch ausgeweitet werden.
Vielleicht muss das Europäische Parlament oder müssen die europäischen Institutionen bessere Möglichkeiten bekommen um sicherzustellen, dass die Mitgliedsstaaten ihrer Gemeinschaftsverpflichtung auch nachkommen. Speziell was die Telekommunikation angeht habe ich oft gehört, dass die Regelungsvorgaben auf europäischer Ebene nicht genug sind. Es ist kein absolut umfassender Rahmen, dem stimme ich zu, aber die Art wie diese unvollständigen Regularien in den Mitgliedsstaaten implementiert werden … Ich meine: Es macht keinen Unterschied, wie viele Seiten Gesetzestexte wir in Brüssel verabschieden, wenn die Mitgliedsstaaten dann dafür sorgen, dass alle darin enthaltene Weisheit, wenn überhaupt welche darin ist, konsequent nicht angewendet wird.
Ich interessiere mich auch sehr für gewerbliches Schutzrecht, wie Patentrecht, Rechte an Design oder Marken. Es gibt da eine ganze Reihe von sowas wie Nebeninitiativen, Datenexklusivität in der Pharmaindustrie ist da ein gutes Beispiel, bei dem auch die nicht materielle ökonomische Position von Firmen gestärkt wird, auf eine Art die nicht immer zum Besten der Gesellschaft ist. Eine Sache von der ich weiß, dass die EU sich damit intensiv beschäftigt, und von der ich glaube das die meisten darüber kaum nachdenken, sind Zertifikate. Was ist ein Zertifikat wert, wie werden sie generiert und gehandelt, von wem und zwischen welchen Gruppen?
Flaschenpost: Wirst du, wie auch Christian Engström, der Fraktion „Die Grünen/Europäische Freie Allianz“ beitreten?
Amelia Andersdotter: Ich gehe davon aus.
Flaschenpost: Wie können Piraten in ganz Europa aktiv werden und die zwei Piraten im EU-Parlament unterstützen?
Amelia Andersdotter: Für mich ist einer der wichtigsten nächsten Schritte bei europäischer Gesetzgebung, dass die Mitgliedsstaatenregierungen und -parlamente mehr Verantwortung für die Position der Staaten im Ministerrat übernehmen. Mit verantwortlich meine ich dabei nicht notwendigerweise, darauf hinzuweisen dass sie alles falsch machen. Ich meine nur, dass ein erhöhtes Interesse an diesen Positionen unserer Mitgliedsstaaten in diesen Regierungsgremien notwendig ist. Das Abkommen von Lissabon gibt Nationalparlamenten die Macht, zu kontrollieren was die EU und der Ministerrat tut und Nationalparlamente müssen von ihrer Bevölkerung ermutigt werden, diese Macht auch zu nutzen. Was ich in Nationalparlamenten sehe ist das umgekehrte Bild, in Schweden zum Beispiel heißt es dann: “Die EU hat das entschieden also ist es so, und wir können nichts dagegen tun, meh :(” Dabei hat gerade das Nationalparlament, besonders in den frühen Stadien der Gesetzgebungsprozesse in der EU, deutlich mehr Interventionsmöglichkeiten als selbst das Europaparlament. Sie müssen sich selbst nur erlauben, das auch zu tun.