
CC BY-NC 3.0 by Mike Grosse-Hering

Kennen Sie den? Frau Merkel findet in der Kanzleramts-Kaffeeküche einen ulkigen Knopf, was sie erstaunt, weil sie keinen vermisst und der hier keine Löcher hat. Sie ruft ihren persönlichen Referenten, der entschuldigt sich und sagt, das ist seiner, er hat den Euro aus Versehen liegen lassen. Die Kanzlerin dreht die Münze in den Fingern und sagt: „Ah, das ist also ein Euro. Wie klein der ist! Und überhaupt, ich wusste gar nicht, dass es den auch einzeln gibt.“
Haha, ein Angie-Witz. Manchmal fragt man sich, warum sie sich das antut: der Ruf zerstört, die Macht prekär, von der Presse gebeutelt, von ihrem Volk mit Misstrauen verfolgt, die Koalition zerrüttet …
Dabei ist es doch so einfach. Sehen wir uns einen Ausschnitt aus dem normalen Arbeitstag der Kanzlerin an: Wir treffen sie im Dienstaufzug im Kanzleramt, neben ihr murmelt ein Referent das Briefing für den nächsten Termin, Gästeliste erste Reihe, Zweck des Auftritts, kurze Inhaltsangabe ihrer Rede. Frau Merkel saugt auf, was der Bursche murmelt.
Der Lift setzt sanft auf, die Türen gleiten, der Assi bleibt stehen, während Frau Merkel raustritt zum offenen Wagenschlag, zwei Schritte, einsteigen, der Schlag schließt sich sanft, das Auto rollt los. Frau Merkel gönnt sich nicht viel, aber diese Momente der Ruhe, wenn sie unterwegs ist zu einem stadtnahen Termin, das ist einfach wunderbar in diesem wohligen Kraftkokon. Dann biegt das Auto in einen Hof ein, hält vor einem Portal, sie hat ehrlich keine Ahnung, wo sie ist, irgendein Hotel oder so, aber das ist ja das Schöne: Sie muss sich um solcherlei Details nicht kümmern. Der Schlag schwingt auf, Frau Merkel steigt aus und ignorert die Linsen und Mikros, die sich auf sie richten, drei Treppenstufen, oben steht ein wichtiger Mann und streckt freudig lächelnd die Hand aus.
„Herr Wichtig“ – „Frau Kanzlerin“, die Türen schwingen auf und sie treten ins Vestibül, rundum ehrfürchtige Blicke, Merkel fühlt diese Spannung, die das alles lohnenswert macht, diese Energie eines vollen Saals, der auf nichts wartet außer auf sie. „Man ist sehr gespannt auf Ihre Rede“, sagt Herr Wichtig, er bleibt in der Tür stehen und Merkel schreitet hinein.
Ah, dieser Effekt, wenn das Gemurmel zu ersterben beginnt, ausgehend von ihr, und der ganze Saal den Atem anhält – Die Kanzlerin ist da! Mitten unter uns!
Jemand beginnt zu klatschen und Applaus erfüllt den Saal. Vorn an der Ecke strahlen ihr ein paar Gesichter entgegen, zwei oder drei davon bekannt, also streckt sie die Hand aus, die Namen dazu sind jetzt unwichtig, sie schreitet die erste Reihe entlang, wo man stehend applaudiert, mehr bekannte Gesichter, ein paar Namen, jetzt nicht mehr händeschütteln, statt dessen ein ungefähres Winken in die hinteren Bereiche des Saals, nicken, ein Anzug leitet sie ein paar Stufen aufs Podium, das Manuskript liegt bereit, sie steht da, die Chefin, die Bundeskanzlerin, saugt den Applaus auf, dieses größte Rauschmittel, natürlich ohne sich was anmerken zu lassen, ist ja nicht Syrien hier, dann lässt der Applaus nach, die erste Reihe sitzt, ehrfürchtig-erwartungsvolle Stille senkt sich, man hängt ihr an den Lippen, ihr, der Kanzlerin …
Wer so lebt, Jahr um Jahr, der erträgt mit Leichtigkeit den nutzlosen Vize, das zerstrittene Kabinett, die hämische Presse, das zickige Parlament. Wer so lebt, wird alles tun, um weiter so zu leben.
Mein Nachbar hält es genauso. Um sich in sein Leben zu versetzen, braucht es weniger Phantasie: Er hat zwei Kinder und einen qualifizierten Job beim Mittelständler am Ortsrand. Der Job ist leider nicht qualifiziert genug, dass mein Nachbar verschont bliebe vom Fließband, von Lärm, Hitze und der toten Stunde morgens um zwei auf Nachtschicht.
Auch mein Nachbar setzt alles daran, sein Leben weiter so zu führen, also sein Auto zu behalten, die Dreizimmerwohnung mit Südbalkon, wenn’s geht im Sommer zwei Wochen Camping in Holland. Das ist aber nicht so einfach. Seit ungefähr zehn Jahren gleichen die knauserigen Lohnerhöhungen die Inflation nicht mehr aus, während sein Chef immer wieder die gleiche Rechnung aufmacht: „Klar könnt ihr mehr bekommen. Dann sind wir nicht mehr konkurrenzfähig und machen in drei Monaten den Laden zu. Wollt ihr das?“ während der Betriebsrat mit angststarrem Blick danebensitzt. So ist mein Nachbar das erste Mal gekniffen.
Als ab Herbst 2008 die Banken nach Rettung verlangten, später auch ganze EU-Länder, erhielten sie die gewünschte Unterstützung – zu finanzieren vom Steuerzahler. Da war mein Nachbar das zweite Mal gekniffen.
Und weil der Mittelständler inzwischen eine Reihe Leiharbeiter beschäftigt, die so schlecht entlohnt werden, dass sie sich zum Aufstocken der Hartz-IV-Maschine ausliefern müssen – finanziert vom Steuerzahler – ist mein Nachbar ein drittes Mal gekniffen.
Die Ursache ist jedes Mal dieselbe: der enorme, bösartige Außenhandelsüberschuss der Bundesrepublik Deutschland, mit dem deutsche Unternehmen enorme Gewinne einfahren. Von denen sie nichts weitergeben an die Mitarbeiter. Warum auch? Genau so ist es gewollt von der Bundesregierung!
Die Kanzlerin schwebt derweil durch ihre hermetische Kunstwelt, trifft sich mit ihrem nadelgestreiften Klüngel und weiß nichts vom Euro, dem einzelnen, profanen Euro, auf den mein Nachbar immer genauer aufpassen muss und den seine Kanzlerin allein für die Zwecke dieses Aufsatzes zum ersten Mal seit Jahren in der Hand hält.
Was also lernen wir daraus? Die Kanzlerin weiß nichts von der Welt, das kommt mit der Macht. Sie ist weit abgehoben, wie alle Menschen, mit denen sie sich umgibt. Aber wie kann das sein? Eine Demokratie ist diesen Namen nur wert, wenn auch ihre Spitzenkräfte auf dem Boden bleiben, wenn sie ab und an einen Einkaufswagen schieben, mit einem Fahrkartenautomaten kämpfen und im Stau stehen müssen. Ja richtig, darauf hat der Terrorist nur gewartet!
Oder ist es nur mein Nachbar, dem wahrscheinlich die Zornader platzt, wenn er Angie neben sich beim Bäcker an der Theke entdeckt?