Im Zeitalter des Internets nimmt Wikipedia die Bedeutung der Bibliothek von Alexandria ein. Alles Wissen der Welt wird heute in digitaler Form gesammelt. Ein Teil davon findet seinen Eingang in dieses größte Lexikon unserer Zeit. Und während laut Wikipedia in alten Zeiten alle Schriftrollen ins Griechische übersetzt wurden, gibt es Wikipedia in unterschiedlichen Sprachen – mit länderspezifischen Artikeln. Denn ein Begriff, der für den deutschsprachigen Raum Bedeutung besitzt, ist in anderen Sprachen und Ländern vielleicht nicht der Erwähung wert – und umgekehrt.
Wir wissen nicht, ob die Bibliothek von Alexandria aus allen Nähten platzte oder vielmehr Probleme hatte neue Dokumente zu beschaffen. Überhaupt haben nur wenige Dokumente die Zeit überdauert. Wikipedia schreibt, die berühmteste Bibliothek der Antike „hat aber die Christianisierung des Römischen Reiches wohl nicht lange überlebt“. Wie lange Wikipedia bestehen wird, ist heute nicht absehbar – ein Kapazitätsproblem gibt es im Zeitalter der 3 TB Festplatten jedenfalls nicht, große Feuer können dank ausgefeilter Backupstrategien der großen Datenbank nichts anhaben. Interessengruppen, denen zu viel Wissen (oder das „falsche“ Wissen) ein Dorn im Auge ist, gefährden das Projekt schon eher. Dieses Phänomen ist aber nicht neu und lässt sich in der Geschichte weit zurück verfolgen.
Doch Wikipedia nimmt sich bei der Anzahl der Artikel selbst zurück. Waren in antiken Zeiten Papierrollen und Schriftkundige sowohl Mangelware als auch schwer zu bekommen, führen speziell in der deutschsprachigen Wikipedia strikt angewendete Relevanzkriterien zu Lücken in der Dokumentation unseres Wissens und Lebens. Die Liste der aus verschiedesten Gründen zu löschenden Artikeln ist lang. Die Argumente warum der eine oder andere Artikel verschwinden soll, sind für Außenstehende nur schwer begreiflich. Es geht um falsche Schlagworte und darum, ob dieser oder jener Sachverhalt nicht als Abschnitt in einem bestehenden Artikel besser aufgeboben sei. Manchmal enthalten Artikel ausschließlich Nonsens oder ausführliche Biographien, die von der Geburt bis zum Tod frei erfunden sind. Gelegentlich sind Artikel einfach schlecht geschrieben oder bestenfalls auf halber Strecke liegen geblieben. Soll Wikipedia ein ernstzunehmendes Lexikon sein, muss es den damit einhergehenden Qualitätsansprüchen gerecht werden und am Inhalt arbeiten. Doch manchmal entsteht der Eindruck, ein Löschantrag geht bei der Auslegung von Relevanzansprüchen zu weit.
Weshalb sollte ein Fussballverein der 6. Liga nicht erwähnt werden? Was ihre Bedeutung für die Fussballwelt betrifft, haben die elf Spieler und ihr Trainer sicher einen klaren Blick. Auch nimmt der Eintrag auf Wikipedia keinem anderen Eintrag die Papierrolle oder den Platz im Regal weg. Ähnlich verhält es sich mit Lobbyvereinigungen, geplanten Pumpspeicherkraftwerken, einem Museum, dessen Eintrag mit der Bemerkung „besteht ja bereits seit 17 Jahren“ auf den Prüfstand kam. Das sind nur einige wenige Beispiele alleine aus der letzten Novemberwoche.
Mancher vor Jahren abgelehnte Löschantrag kommt nach einiger Zeit erneut auf den Tisch. Mit durchaus offenem Ausgang. Brettspiele sind ebenso vom digitalen Aus betroffen wie Bäume, deren Relevanz der Wikipedia-Leser alleine schon durch den kühlenden Schatten auf dem Foto erkennt. Hat jede Linux-Distribution ein Anrecht auf einen Vermerk? Welche Lücke die Löschwut hinterlässt ist am Artikel über Festermanager zu sehen. Die roten Links am Ende des Artikels sind blutige Wunden, die von diversen „nicht relevant“-Entscheidungen gerissen wurden.
Was müssen Personen geleistet haben, um mit einem eigenen Eintrag in Wikipedia Erwähnung finden zu dürfen? Zwei Bücher auf der Publikationsliste reichen immerhin. Auch Vorstandsvorsitzende politischer Parteien besitzen aus Wikipedia-Sicht von Haus aus Relevanz. Ob diese Relevanz für andere Mitglieder des Vorstands gilt, war Inhalt einer lange anhaltenden Diskussion über Marina Weisband. Aus Piratensicht bedeutend, ist der Löschantrag für den Artikel über die europäischen Anti-Zensur-Aktivisten Telecomix. Die Hackervereinigung betreibt Einwahlknoten für Modems. Angewählt wird diese altertümliche, aber robuste Technik aus Ländern, in denen das Internet massiv zensiert wird. Schon Anfang 2011 genoss Telekomix große mediale Aufmerksamkeit. Eine Suche auf Wikipedia könnte bald ins Leere führen – ohne dass ein arabischer Diktator dafür die Zensur verschärfen muss.
So manche Löschung riecht nach den Bücherverbrennungen, die laut Wikipedia auch in unseren Tagen noch stattfinden. Am 25. November sollten der Wikipedia keine Bücher, aber 18 Einträge zu Bäumen der digitalen Kettensäge zum Opfer fallen.
Blicken wir in die Antike zurück, ist so manche Wissenslücke zu entdecken. Im alten Alexandria konnte nicht alles dokumentiert werden, die Ressourcen waren begrenzt. Das Internet unserer Tage verspricht hingegen unbeschränktes Wissen. Es wäre schade, die Einträge junger Menschen, geplanter Bauprojekte oder unbekannter Vereine an die Ränder des Internets zu verbannen. Und so mancher Baum hat es verdient, auch nach dem Ende seiner Zeit im Wikipedia-Gedächnis fort zu bestehen. Er nimmt niemandem etwas weg.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.