Schon Monate vor ihrer Kreismitgliederversammlung am vergangenen Sonntag (09.09.2012) haben die Piraten aus dem Rhein-Kreis Neuss darüber diskutiert, wie sie sich organisatorisch neu aufstellen können. Die anfallenden Aufgaben sollten strukturiert und verbindlich verteilen und bewältigen können, um ein gewisses Maß an Zuverlässigkeit und Kontinuität zu garantieren, was zweifelsfrei von Bürgern, politischer Konkurrenz und Presse von einer politischen Partei erwartet wird.
So haben sich die Neusser Piraten zu ihrer vorletzten Kreismitgliederversammlung Hans-Immanuel Herbers und Jorgos Tsichlakis eingeladen, welche die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Organisationsformen (Kreisverband oder Piratenbüro) erläutert haben. Die anschließende sachlich, teilweise aber auch emotional geführte Diskussion, brachte am Ende dieser Kreismitgliederversammlung zumindest in einem Punkt Klarheit: Ein Kreisverband wurde zunächst nicht gegründet, da die Vorteile gegenüber einem Piratenbüro nicht eindeutig genug auszumachen waren. Die Neusser Piraten haben letztlich entschieden, es zunächst mit einer “virtuellen Geschäftsstelle” zu versuchen, auch um unnötige bürokratische Pflichten, welche sich aus der Gründung eines Kreisverbandes ergeben, zu vermeiden. Sollte die Idee einer virtuellen Geschäftsstelle nicht funktionieren, könne es zu einem späteren Zeitpunkt ja immer noch zur Gründung eines Kreisverbandes kommen, getreu dem Motto: aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Zu diesem Zweck hatten die Neusser Piraten Andreas Rüssel und Lukas Lamla bereits einen Entwurf für eine mögliche Geschäftsordnung eines Piratenbüros vorbereitet. Da sich die anwesenden Piraten allerdings im Vorfeld noch nicht umfassend mit diesem Entwurf beschäftigten konnten, und um größtmögliche Einigkeit zu erzielen, hat die Kreismitgliederversammlung diese wichtige und wegweisende Entscheidung auf die nächste Kreismitgliederversammlung vertagt und entschieden, gemeinsam in Mumble den vorhandenen Entwurf dieser Geschäftsordnung für eine virtuelle Geschäftsstelle zu prüfen und zu überarbeiten.
In den folgenden Wochen trafen sie sich mehrmals online und erarbeiteten drei Varianten einer möglichen Geschäftsordnung. Insgesamt verlief die Diskussion weitestgehend sachlich, piratentypische verbale Ausfälle hielten sich in Grenzen. Hauptstreitpunkt war die eingebrachte Idee einer Stellvertreterregelung, die bei manchen Allergien auslöste, weil die zu erwartende Arbeit von Verwaltungs- und Finanzpirat doch ganz gut alleine bewältigt werden könne und der Aufwand für den Landesvorstand (Datenschutzerklärung, satzungsgemäße Bestätigung der weiteren Personen) nicht im Verhältnis zum angestrebten Nutzen stehen würde. Im Endeffekt einigten sich die Piraten auf einen Kompromiss, der sich auf der Kreismitgliederversammlung am 09. September dann auch als tragfähig erwies: In der Geschäftsordnung der virtuellen Geschäftsstelle heißt es nun:
“Die Mitgliederversammlung kann entscheiden, maximal zwei Vertretungspiraten zu wählen. Diese können den Verwaltungspiraten und/oder den Finanzpiraten kommissarisch vertreten, wenn dieser/diese verhindert ist/sind (z. B. längere Abwesenheit, Urlaub, Krankheit). Wenn die Mitgliederversammlung keinen Vertretungspiraten wählt, dann vertritt der Verwaltungspirat den Finanzpiraten kommissarisch und umgekehrt, wenn dieser verhindert ist.”
Die Basis sollte also darüber entscheiden, ob sie Vertreter der Büropiraten wählen möchte.
Am Freitag vor der Kreismitgliederversammlung hat die Redaktion mit Mike Nolte (Pirat aus Köln) gesprochen, der häufig von Piraten als Referent zu diesem Thema gehört wird und ebenso häufig Piraten dabei mitgeholfen hat, eine Organisationsform zu wählen, die zu ihnen passt. Nolte kritisierte die in der Vergangenheit so hitzigen Diskussionen von Verfechtern beider Organisationsformen und kommt in seiner Betrachtung zu einem eindeutigen Ergebnis: “Nicht die Organisationsform ist entscheidend, sondern immer die mitarbeitenden Piraten, welche die gewählte Organisationsform umsetzen.” So sei es nach der Landessatzung NRW noch nicht einmal notwendig, eine bürokratische Geschäftsordnung für ein Piratenbüro zu beschließen, sondern einfach per Beschluss auf der Kreismitgliederversammlung Träger von Aufträgen für bestimmte Aufgaben zu benennen. Allerdings dürfte nicht jede beliebige Aufgabe, beispielsweise das Annehmen von Spendenquittungen, an Büropiraten übertragen werden, berichtet Nolte von einem Workshop zum Thema “Kreisverband oder Piratenbüro” in Meinerzhagen am 06.09.2012. Ein Audiomitschnitt kann hier heruntergeladen werden.
Dann kam der Tag der Kreismitgliederversammlung. Die meisten Piraten waren mit der Tagesordnung und den vorgeschlagenen Varianten einer möglichen Geschäftsordnung der virtuellen Geschäftsstelle gut vertraut und so einigten sich die Piraten zügig auf diese Geschäftsordnung, welche mit der notwendigen 2/3-Mehrheit angenommen wurde.
Gewählt wurden eine Verwaltungspiratin, ein Finanzpirat, zwei Stellvertreter, ein Pressepirat sowie zwei Vertrauenspiraten, welche bei zwischenmenschlichen Problemchen – die bei Piraten ja auch manchmal vorkommen sollen – als Mediatoren fungieren werden.
Die neu gewählte Verwaltungspiratin Bianca Staubitz fasst zusammen: »Unsere Büropiraten nehmen „nur” Verwaltungsaufgaben wahr – die politische Richtung wird weiterhin von der Basis bestimmt«. Lukas Lamla, mittlerweile Mitglied des Landtages NRW, stellt fest: »Eine neue Politik braucht auch neue Strukturen. Mit diesem Modell sind die Neusser Piraten Vorreiter in NRW und sogar in ganz Deutschland. Die entstandene Flexibilität wird uns in der kommenden Kommunalwahl 2014 viele Vorteile verschaffen.«
Ob das Neusser Modell erfolgreich ist, wird sich naturgemäß erst in der Zukunft zeigen. Im positiven Fall könnte es dann jedoch viele Nachahmer im gesamten Bundesgebiet finden.