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Tunsesiens „mutigste Bloggerin“, die Linguistik-Dozentin und Übersetzerin Lina Ben Mhenni,
stellte sich auf der „#vernetzt“ in Hamburg am 29.September den Fragen
der taz-Journalistin Doris Akrap und eines wohlmeinenden Publikums. Die
junge Frau reist seit der erfolgreichen Revolution gegen den Diktator
Ben Ali durch Tunesien und berichtet auf ihrem Videoblog A Tunisian Girl von Krisen, Protesten und Polizeigewalt – deren Opfer auch sie selbst schon mehrfach wurde.
Neben dem Bändchen „Empört Euch!“ des Franzosen Stephane Hessel (der vier
Stunden zuvor auf der Tagung sprach), stammt das Buch „Vernetzt euch!“
von Lina Ben Mhenni, die für eine neue Demokratie auf Basis der Netz-,
Bild- und Telemedien eintritt: In ihrer Streitschrift fordert Lina Ben
Mhenni die Leser auf, sich politisch zu engagieren und zu vernetzen. Die
Veranstaltung ist angekündigt als „Arabischer Herbst –kann das Netz den Frühling retten?“
Es drohe nicht nur in Ägypten ein „Arabischer Herbst“, die Frage sei:
„Was denkt die junge Generation der Blogger und Aktivisten, die für
Freiheit und Demokratisierung gekämpft haben (und weiter kämpfen)
heute?“ Den Beitrag von Wikileaks zur tunesischen Revolution erwähnte man ebenso wenig wie jenen von Anonymous, obwohl A Tunisian Girl ihn schon zu würdigen wusste.
Der
Terminus „Jasminrevolution“, so stellt Nina Ben Mhenni nach den ersten
Fragen klar, wird so in Tunesien nicht gebraucht, ist eine Erfindung
ausländischer Medien. „Jasmin“, das klinge ihr zu blumig, zu sanft, die
Revolution in Tunesien sei eine gewalttätige Sache gewesen, es habe
viele Tote gegeben, die blutige Unterdrückung der Bevölkerung durch Ben
Ali setze sich heute unter dem islamistischen Ennada-Regime fort. Sie
erinnerte auch an die Selbstverbrennung des 26-jährigen Gemüsehändlers
und posthumen Sacharow-Preisträgers Mohamed Bouazizi
vor einem öffentlichen Gebäude in Sidi Bouzid, 250 Kilometer südlich
von Tunis am 17. Dezember 2010, die als Auslöser der Proteste gilt.
Die Ablehnung des Wortes “Jasminrevolution” ist verständlich, stammt der
Begriff doch vom gerade gestürzten Diktator. Nach der Absetzung des
vorherigen Diktors Bourguibas übernahm Ben Ali am 7. November 1987 das
Amt des Staatspräsidenten und bezeichnete seinen unblutigen Putsch als Jasminrevolution.
In den ersten Jahren seiner Amtszeit trieb Ben Ali tatsächlich die
Modernisierung Tunesiens voran: Sozialsystem, Frauenrechte,
Bildungswesen machten Fortschritte. Doch ohne demokratische Kontrolle
durch Medien und Bevölkerung versank das Regime immer tiefer in
Korruption, Nepotismus und Unterdrückung der Menschenrechte, bis zur
zweiten Jasminrevolution. Nach den Wahlen, die von der islamistischen Ennada gewonnen wurden, geraten die Bürgerrechte erneut in Gefahr -zumal Fortschritte bei Polizei und Justiz nicht zu verzeichnen sind.
Genau
wie unter Ben Ali schickt die Regierung heute, so Lina Ben Mhenni,
wenn die Menschen gegen Wassermangel protestieren, kein Wasser, sondern
Polizei. Sie selbst sei wiederholt beim Filmen geschlagen worden, man
habe sie inhaftiert und ihre Kamera konfisziert. So gehe es vielen
Tunesiern und Tunesierinnen heute, die öffentlich für ihre Rechte
demonstrieren wollten.
Besonders drastisch sei der Fall einer in Haft auf einer Polizeistation von den Ordnungskräften vergewaltigten Aktivistin
gewesen, der in den Medien hohe Wellen bis nach Deutschland schlug. Das
Opfer bekam statt Gerechtigkeit eine Anklage an den Hals. Überhaupt
kenne sie niemanden, der bei Beschwerden oder Strafanzeigen gegen
gewalttätige Polizeikräfte in Tunesien je Erfolg bei der Justiz gehabt
hätte. Doris Akrap forderte Lina Ben Mhenni auf, ihr Sweatshirt
vorzuzeigen, auf dem in großen Lettern stand „Rape is legal in Tunesia“.
Viele
Zuschauer hatten bei ihren Fragen zunächst das Bedürfnis, der Bloggerin
ihre Hochachtung und ihren Respekt für ihr mutiges Eintreten für
Demokratie und Menschenrechte gegenüber einer islamistischen Regierung
auszusprechen. Aber es gebe wohl eine demokratisch gewählte Mehrheit für
islamistische Politiker in Tunesien, da müsse der Protest erst einmal
Bildungsarbeit bei den Bauern in der Provinz leisten.
Nina Ben
Mhenni hatte demgegenüber das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass
Islamisten und Ennada-Partei massive Unterstützung aus dem Ausland
erhalten würden. Die USA, namentlich Obamas Außenministerin Hilary
Clinton, und Qatar hätten Geld und Propaganda-Material nach Tunis
geschickt, um die Wahl zu beeinflussen. Auch Saudi Arabien wäre darin
verwickelt, vor allem aber Qatar sei wie ein Krebsgeschwür in der
arabischen Welt, dass die Demokratie krank mache.
Sie selbst könne
eine noch so demokratisch gewählte Regierung nicht anerkennen, die
zuließe, dass Polizisten ungestraft Frauen und auch Männer vergewaltigen
dürfen. Der Westen dürfe nicht die heutige Regierung in ihren
Menschenrechtsverletzungen ebenso tolerieren oder sogar unterstützen,
wie man es jahrzehntelang mit der Diktatur Ben Alis getan habe. Sie
bekam zum Abschluss großen Applaus.
Anzumerken wäre noch, dass
Saudi Arabien die Demokratiebewegung in der Nachbardiktatur Qatar mit
deutschen Waffen niedergewalzt hatte. Deutsche Journalisten haben sich
angewöhnt im Fall solcher westorientierten Gewaltregime immer wieder
stumpfsinnig zu wiederholen, aber sie seien doch „Anker der Stabilität
in einer unruhigen Region“. Äußerst merkwürdig, dass keinem dieser
Freunde und Freundinnen der Stabilität dabei je aufgefallen ist, dass
dies seit vielen Jahrzehnten wohl eher für Kuba in der „unruhigen
Region“ Lateinamerika gilt.
Biographie: Lina Ben Mhenni
ist Dozentin für Linguistik und Übersetzerin an der Universität Tunis.
Sie ist eine politische Bloggerin und Internetaktivistin, die sich für
Menschenrechte und gegen Zensur einsetzt. Lina Ben Mhenni stammt aus
einer für tunesische Verhältnisse wohlhabenden Familie. Ihr Vater, Sadok
Ben Mhenni, arbeitet in der Verwaltung des Transportministeriums. Er
verbrachte ab 1974 als Mitglied der politischen Linken sechs Jahre in
tunesischen Gefängnissen und wurde gefoltert. Nach ihrem Abitur
studierte Lina Ben Mhenni im Rahmen des Fulbright-Programms 2008/2009
auch in den Vereinigten Staaten und unterrichtete Arabisch an der Tufts
University bei Boston. Lina Ben Mhenni, deren Blog während der
Revolution in Tunesien 2010/2011 weltweite Bekanntheit erreichte und
die, wenn sie auch betont, nur für sich selbst zu sprechen, als „Stimme
des tunesischen Aufstands“ bezeichnet wurde, gehörte im Mai 2011 zu den
Teilnehmern des Oslo Freedom Forum. In ihrem Buch Vernetzt Euch!
hatte sie angekündigt, im Komitee zur Reform der tunesischen Medien
mitzuarbeiten, stellte dort ihre Mitarbeit im Juni 2011 jedoch aus
Enttäuschung über mangelnde Veränderung bei den Strukturen der Medien
wieder ein. Im September 2011 war sie Teilnehmerin eines Symposions über
die gesellschaftliche Rolle sozialer Netzwerke auf der Linzer Ars
Electronica. Wikipedia über Lina Ben Mhenni