Disclaimer: Dieser Artikel ist veraltet, die beiden dort erwähnten Gruppierungen sind seit vielen Jahren inaktiv
Der Konflikt zwischen der Arbeitsgruppe “Nuklearia” und den “Anti-Atom-Piraten” hat in der Piratenpartei für viel Aufsehen gesorgt. Spätestens der Flyer der Nuklearia, für den der Verfasser zwischenzeitlich mit einer Abmahnung bedacht wurde, hat die “Pro-Atom-Piraten” bekannt gemacht. Doch was wollen “die” eigentlich? Wofür steht die Nuklearia tatsächlich, wie unterscheidet sich ihre Position von der empfundenen Mehrheit der Piraten, und warum sind sie trotz allem so engagiert in der Piratenpartei? Was genau wollen die Anti-Atom-Piraten, wie stehen sie eigentlich zur Piratenpartei, und woher kommt dieser Konflikt? Die Flaschenpost bat beide Gruppen um eine Vorstellung, damit Piraten das tun können, was sie tun wollen: Den Dingen auf den Grund gehen und faktenbasierte Entscheidungen treffen.
Ein Gastartikel von Fabian Herrmann
Was ist die AG Nuklearia, warum hat sie sich gegründet – und was sind ihre Ziele?
“Das sind doch diese Atomlobbyisten…?!” “Sind das nicht so Physikstudenten?” “Also ich find die ganz in Ordnung!” “Das ist doch so eine winzige Minderheits-AG mit verrückten Ansichten!” “Ja, aber man kann ihnen doch mal zuhören, vor allem wenn sie wirklich eine Technologie zur Zerstörung von Atommüll kennen.” “Die schaden der Partei!” “Es spricht doch nichts dagegen, das Thema Kernenergie im Auge zu behalten – die anderen Länder steigen eh nicht aus.” “Also, wenn sie sich für Fusion stark machen würden, das fände ich prima, aber Spaltung ist so kontaminös.” “Man muss ihnen mit guten Argumenten begegnen…” “Ich hab mal im Mumble zugehört, die scheinen recht kompetent zu sein.” “Sie zeigen, dass die Piraten mehr sind als nur Grüne 2.0.”
All diese beziehungsweise ähnliche Meinungen habe ich schon gehört. Doch was stimmt wirklich?
Ich war früher mal Kernenergiegegner (und noch etwas früher Internet-Gegner). Beileibe kein besonders aktiver Gegner, ich habe nie irgendwo demonstriert oder mit einem Scheinwerfer das dreigeflammte Radioaktivitätssysmbol auf eine Reaktorkuppel projiziert. Aber ich sagte: “Ich halte Kernenergie für eine schlechte Idee!” als ich mich – war es im zweiten oder dritten Semester? – mit einem Kommilitonen, der mir in diesem Punkt widersprach, während einer mäßig interessanten Vorlesung über dieses Thema unterhielt.
Ich skizzierte die Möglichkeit, dass Terroranschläge oder Flugzeugabstürze Kernkraftwerke zerstören könnten. Ich erwähnte, dass Uran in etwa ebenso rasch erschöpft sein werde, wie Erdöl. Dann unterhielten wir uns über etwas anderes.
Längere Zeit machte ich mir keine ausführlicheren Gedanken mehr dazu. Die Reaktoren von Fukushima-Daiichi überhitzten, schmolzen und sprengten ihre Containments durch Knallgasbildung. Ich las einige Artikel darüber, dass man Kernenergie anders gestalten könne: Ohne Risiko des Super-GAU, langlebige Abfälle und zeitliche Begrenztheit durch finite Vorräte hochwertiger Erze.
Als Diplomphysiker kenne ich den Unterschied zwischen physikalischem Prinzip und Technologie. Eine Technologie, die ein bestimmtes Prinzip nutzt, kann ungünstig gewählt sein. Dies sagt nichts über das Prinzip aus – oder über alternative Technologien.
Beim Genuss eines Eisbechers verfolgte ich auf Twitter eine Diskussion. “Wehe, du erzählst denen am Infostand, dass Kernenergie gut sei!” schrieb ein Pirat einem anderen. “Ich werde versuchen, es ausgewogen darzustellen”, antwortete dieser (Rainer Klute).
“Ob er so eine Art Pro-Atom-Pirat sei?” fragte ich Rainer. Ja, er stehe der Technologie nicht ablehnend gegenüber. Ich und einige andere hätten, erwiderte ich, kürzlich halb zum Spaß und halb im Ernst beschlossen, wenn es eine datenschutzkritische Spackeria gäbe, dann müsse es auch eine ausstiegskritische Nuklearia geben. “Butter bei die Fische!” Rainer und ich gründeten die AG, und legten als ersten Schritt eine Wikiseite an: Wir seien Piraten, erklärten wir dort, die den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergieerzeugung kritisch und diese als wichtige Komponente im zukünftigen Energiemix sähen.
Hätte man die folgenden Shitstürme in einen großen Windpark geleitet, wären zeitweilig mehrere Gigawatt erzeugt worden.
Aber nichtsdestotrotz wuchs die AG allmählich und verfeinerte ihr Profil. Wir ließen das “ausstiegskritisch” fallen: Wie die meisten Piraten wollen wir die deutschen Kernkraftwerke abschalten. Unserer Ansicht nach benötigen wir allerdings neue. Diese Position stellt innerhalb Deutschlands im Allgemeinen, der deutschen Politik im Besonderen und der Piratenpartei Deutschlands im Speziellen eine Minderheitsmeinung dar.
Sollten wir nicht “Politik für den Bürger” machen und Positionen vertreten, die die Mehrheit der Deutschen unterstützt?
Nein. Die Mehrheit der Deutschen stimmte zeitweilig den Thesen Thilo Sarrazins zu. Wenn die Medien, mit gewissen, in großer Schrift gedruckten Springer-Publikationen vorne weg, wieder einmal einen Kindesmissbrauchsfall zur makabren Unterhaltung missbrauchen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Mehrheit die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert.
Die Mehrheit hat eben nicht immer recht, weder sachlich noch moralisch, und das wissen alle Piraten: Viele Programmpunkte – der Atomausstieg hat es bislang nur in ein Positionspapier geschafft – widersprechen der Mehrheitsmeinung der Deutschen. Die Mehrheit würde bislang nicht der Grundsicherung als Teil der Infrastruktur, der freien Privatkopie oder einer Re-Evaluation des Betäubungsmittelgesetzes zustimmen. Dennoch vertreten die Piraten diese Standpunkte. Man kann auch in der Opposition Politik mitgestalten, oder aber hoffen, dass sich die Mehrheitsmeinung in Zukunft ändert.
Wir Nukleiden möchten insofern in der Art einer “Opposition in der Opposition” politisch aktiv sein. Wie begründen wir dieses Unterfangen?
Kernkraft hat viele Vorteile: Sie erzeugt zuverlässig klimaneutrale Energie, rund um die Uhr und mit sehr geringem Platzbedarf. Für energieaufwändige Industrieprozesse – u.a. Metallverarbeitung, elektrochemische Kraftstoffgewinnung, Plasmarecycling von Abfällen aller Art – sind kleine, dezentrale Kernreaktoren die Energiequelle der Wahl, sowohl für Elektrizität wie für Prozesswärme. Kernbrennstoffe stehen auf der Erde in so gut wie unbegrenzter Menge zur Verfügung, insbesondere sind die bereits vorhandenen, in herkömmlichen Kernkraftwerken bestrahlten Brennelemente keinesfalls verbraucht, sondern verfügen über noch fast ihren gesamten ursprünglichen Energiegehalt, der darauf wartet, freigesetzt zu werden: ähnlich wie Holzscheite, die nur an der Oberfläche angekohlt sind. Reaktoren der Vierten Generation wie Integral Fast Reactor oder Flüssigsalzreaktor und fortgeschrittene Brennstoffzyklen verwandeln den bisherigen Atommüll in eine starke Energiequelle für Jahrhunderte, wobei die langlebigen Aktinide, die viele aufgrund ihrer Jahrhunderttausende anhaltenden Radioaktivität als großes Problem der Kernenergieerzeugung ansehen, recycelt und gespalten werden, was die Dauer, für die der Abfall sicher eingelagert werden muss, auf wenige Jahrhunderte reduziert.
Über diese Technologien – Recycling von Reaktorabfällen – wird in Deutschland mit sehr wenigen Ausnahmen kaum berichtet. Es zeichnet sich leider mehr und mehr ab, dass Deutschland in Sachen Kerntechnik-Knowhow das wird, was Nordkorea in Sachen Computertechnik und Internet ist: ein Schwarzes Loch.
Im englischsprachigen Raum dagegen wird über Nuklearabfall-Recycling und Zerstörung langlebiger Transurane in Reaktoren der Vierten Generation in großem Umfang diskutiert. Viele frühere Kernkraftgegner sind angesichts solcher Möglichkeiten nun Pro-Atom-Umweltschützer. Man sieht, dass die AG Nuklearia im Grunde nirgends besser aufgehoben ist als in der Piratenpartei: Der freie Fluss der Information über moderne Kerntechnik soll auch durch Deutschland strömen, und wir betrachten es als eine wichtige Aufgabe für uns, die Schleusentore zumindest ein kleines Stück weit zu öffnen. Daher besteht ein wesentlicher Teil unserer Arbeit als AG darin, in der Art eines wissenschaftsjournalistischen Projektes Informationen zu sammeln und allgemeinverständlich aufzubereiten – im Internet aber auch in Live-Vorträgen, für die wir jederzeit gerne zur Verfügung stehen. Die Reaktionen sind äußerst unterschiedlich – sie reichen von wütender Ablehnung bis zu Begeisterung! Immer wieder treffen wir auf Piraten, aber auch Außenstehende, die uns gerne unterstützen möchten. Wir freuen uns über neue, engagierte AG-Mitglieder, weswegen jeder Interessierte herzlich zu unserem Nuklearia-Mumble (jeden Donnerstag 21 Uhr, Bund → Arbeitsgemeinschaften → Politik → AG Nuklearia) eingeladen ist, oder alternativ sich mit Fragen via Email an uns wenden kann. Alle Kontaktmöglichkeiten finden sich hier.
Bis zu einer Artikelserie im “Spiegel” über den Integral Fast Reactor, Flüssigsalzreaktoren oder anderen fortschrittlichen Kernenergiesystemen ist es noch ein weiter Weg. Aber mit unseren Nuklearia-Programmanträgen für den BPT 2012.2 sollte ein erster kleiner Schritt getan sein – hin zu einem Neuüberdenken des momentanen energiepolitschen Kurses Deutschlands. Hierzu ist es besonders wichtig, dass die Piratenpartei sich nicht programmatisch selbst Denkverbote auferlegt durch undifferenzierte Bausch-und-Bogen-Formulierungen im Grundsatzprogramm à la “Wir lehnen Energieerzeugung durch Kernspaltung ab” ohne dass näher spezifiziert wird, welche Art von Kernspaltung gemeint ist. Erstrebenswert erschiene uns ein Konzept im Stil der Green Party of Ontario, die plant, zunächst die Kohlekraftwerke – mit Abstand die schädlichste Energiequelle! – abzuschalten, anschließend die herkömmlichen Kernkraftwerke so bald wie praktikabel vom Netz zu nehmen und im gleichen Zuge die Entwicklung des Flüssigsalzreaktors als Kernenergiesystem der Zukunft zu unterstützen.
Alle Prozesse, mit denen wir unsere Lebenswelt gestalten (vermutlich sogar alle Prozesse im Universum) beruhen letztlich auf nicht mehr als drei Komponenten: Materie als Rohstoff, Energie zur Umformung des Rohstoffs und Information – bzw. Intelligenz als Produzent der Information – zur Steuerung der Umformung. Der letzte Punkt wird bereits sehr gut von der Piratenpartei mit ihren ursprünglichen Schwerpunkten abgedeckt. Mit den ersten beiden beschäftigt sie sich noch nicht so sehr. Hier findet die AG Nuklearia ihren Platz, insbesondere bezüglich des nuklearen Recyclings von Reaktorabfällen. Da es sich um eine in Deutschland kaum bekannte Option handelt, ist das durchaus ein Alleinstellungsmerkmal, und daher auch Kernpunkt unserer Programmanträge: In “Ausstieg aus der Stromerzeugung in herkömmlichen Kernkraftwerken” (PA121), der auf einem Positionspapier der AG Energiepolitik und einem Programmantrag für den BPT 2012.1 (P055) basiert, setzen wir uns für die vollständige Umstellung Deutschlands auf postfossile Energiequellen ein, wobei zur Untermauerung der Erneuerbaren Transmutationsreaktoren für den vorhandenen Atommüll entwickelt werden sollen. In dem Modulantrag “Entsorgung langlebigen, hochradioaktiven Abfalls aus bestrahlten Brennelementen in Deutschland” (PA115) gehen wir bezüglich der drei verschiedenen Entsorgungsmöglichkeiten ins Detail und stellen es zur Entscheidung, eine hiervon zu favorisieren. Wir machen uns natürlich für die dritte Option stark: Denn mehrhunderttausendjährige Einlagerung scheint uns wenig sinnvoll, Reduzierung der radioaktiven Lebensdauer auf 300 Jahre unter gewaltiger Energieproduktion dagegen sehr!
Meinen Widerwillen gegen das Internet hängte ich an den Nagel, nachdem ich mit der Technik in Kontakt gekommen war, und begann, sie im täglichen Leben zu nutzen. Das war zu Beginn der 2000er. In dieser Hinsicht war ich möglicherweise sogar fortschrittsskeptischer als viele heutige Piraten es damals waren: Die Piraten scheinen sogar der erste ernstzunehmende politische Schritt weg vom resignierenden Technikskeptizismus der Grünen in den 1980ern zu sein. Technischer Fortschritt wird bei ihnen wieder zum zentralen Thema: Dies bedeutet aber auch, dass keine Technologie – genauer gesagt: kein physikalisches Prinzip, das verschiedenen möglichen Technologien zugrunde liegt – aus prinzipiellen Gründen verteufelt werden sollte.
Die Menschheit als eine Tierart unter vielen anzusehen – als stur wachsende Lebensform, die sich vermehrt, bis sie eine vorgegebene ökologische Nische ausgefüllt hat – war eine Denkweise, die die Grünen in den Achtzigern prägten und die bis heute ein hohes Beharrungsvermögen hat. Wirft man jedoch die Vorurteile gegen die Nutzung der Kernenergie über Bord, dann kann die Menschheit nicht nur aus ihrer ursprünglichen ökologischen Nische ausbrechen, sondern sich auch völlig neue Lebensbereiche erschließen. Durch Einsatz von Kernkraftwerken – und in Zukunft sind das auch Fusionskraftwerke – können zehn Milliarden Menschen auf europäischem Niveau leben und sich auch weiterentwickeln: Der Traum vieler Piraten “Von der C-Base auf den Mars” braucht kein Traum zu bleiben. Wir werden wieder mit Überschall-Verkehrsflugzeugen fliegen. Wir werden Afrika und die anderen armen Regionen der Erde industrialisieren und den Menschen dort ein würdiges Dasein ermöglichen. Wir werden die kontrollierte thermonukleare Fusion beherrschen. Wir werden Mond, Mars, Asteroide und Gasriesenmonde bemannt erforschen, kolonisieren und industrialisieren. Es ist Zeit für Optimismus!