
Flaschenpost: In den 1970-ern, ich war noch ein Kind, bekam ich mit, dass es in Bayern keine CDU (Christlich Demokratische Union), dafür aber die CSU gibt. Meine Eltern, mit meiner Erkenntnis konfrontiert, hatten die Erklärung parat: In Bayern gäbe es die Christlich Demokratische Union nicht, weil es in Bayern keine Demokraten gäbe. Mit der Antwort konnte ich nichts anfangen, reimte mir aber zusammen, dass „Demokraten“ etwas wie „Indianer“ oder „Ostfriesen“ sein müssen – die es in Bayern eben nicht gäbe. Nun, 40 Jahre später, gibt es in Deutschland LiquidFeedback, in Bayern aber das PirateFeedback. Zu dieser Erkenntnis befragen wir cmrcx: Warum dieser erneute bayrische Sonderweg?
cmrcx: Im Frühling diesen Jahres machte ich mir immer mehr Sorgen um die Entwicklungen mit LiquidFeedback. Abstimmungen wurden regelmäßig von sehr wenigen Teilnehmern mit sehr vielen Delegationen entschieden, die sie größtenteils über mehrere Zwischenstationen erhalten hatten. Die sehr genauen Analysen von StreetDogg zeigten deutlich, welche fatalen Effekte vor allem durch die Kettendelegation entstehen. Gleichzeitig gab es eine Reihe von Kandidaten zum Bundesvorstand, die ankündigten, nach den in LiquidFeedback getroffenen Entscheidungen handeln zu wollen. Zu dieser Zeit kam dann auch der Blog-Artikel von Andi und Sylvi zur Präferenzdelegation. Tarzun antwortete darauf, nur ein Blog-Artikel sei nicht ausreichend, jemand müsste einen Fork machen und das implementieren. Also schaute ich mir den Code an und sprach mit verschiedenen Leuten darüber. Letztendlich hatte ich aber nicht genug Motivation, mit viel Aufwand etwas zu programmieren, ohne absehen zu können, ob es dann auch eingesetzt wird. Zum bayrischen Landesparteitag im September stellte ich dann einen Antrag, in einem zukünftigen bayrischen LiquidFeedback die Delegationen abzuschalten. Das wäre vor allem eine sehr einfach zu implementierende Möglichkeit gewesen, die Kettendelegationen loszuwerden. Es gab dann einige Alternativanträge. Mein Antrag wurde vom Parteitag knapp abgelehnt, der Antrag vom Andi Popp zur Einführung der Präferenzdelegation wurde mit großer Mehrheit angenommen. Durch diese Unterstützung des Parteitags hatte ich dann die nötige Motivation, es einzubauen.
Flaschenpost: Wie hast du es geschafft, dich so schnell in den Sourcecode von LQFB einarbeiten zu können, um diesen Fork zu erzeugen?
cmrcx: Wie gesagt habe ich schon ein halbes Jahr vorher mir das Ding mal genauer angeschaut und überlegt, wie man die Präferenzdelegation einbauen könnte. Außerdem programmiere ich beruflich seit 14 Jahren Webanwendungen. Mit den verwendeten Programmiersprachen Lua und PL/PgSQL habe ich vorher zwar noch nie etwas gemacht, aber Lua ist eine verhältnismäßig einfache Sprache und wenn man grundsätzlich programmieren kann ist es nicht so viel Aufwand, eine weitere Sprache zu lernen. Im normalen Bewusstseinszustand kann ich das allerdings auch nicht, bei mir geht das nur im Flow.
Flaschenpost: Wie aufwändig war es die bayrischen Änderungen einzubauen?
cmrcx: Bis die Präferenzdelegation funktionierte, habe ich nur zwei Tage gebraucht. Das hat mich selbst überrascht. Seitdem arbeite ich vor allem daran, weitere Dinge zu verbessern. Der Code von LiquidFeedback macht auf mich den Eindruck, dass da jemand nach der Hälfte keine Lust mehr gehabt hat, es fertig zu programmieren. Auch Bugs wurden anscheinend in letzter Zeit nur behoben, wenn sie wirklich schwerwiegend waren. Das größte Problem ist aber die nur sehr spärliche Dokumentation, zumal auch das verwendete Framework WebMCP eine Eigenentwicklung ist. Man muss sich also ständig irgendwie selbst zusammenreimen, wie etwas gedacht war. Die andere auf dem Landespartei beschlossene Änderung, die Abschaltung der Namenshistorie, war übrigens sehr viel schwieriger umzusetzen, als sich der Antragsteller wohl gedacht hat.
Flaschenpost: die Entwickler von LiquidFeedback distanzierten sich vom Einsatz ihrer Software im Bund. Inwieweit trifft ihre Kritik auch auf die bayrische Variante zu?
cmrcx: Sie kritisieren, dass wir Pseudonyme zulassen und das machen wir in Bayern genauso. Wir gehen mit der Abschaltung der Namenshistorie sogar noch einen
Schritt weiter. Ein Benutzer kann nun jederzeit seinen Benutzernamen
ändern ohne dass nachvollziehbar ist, wie er früher hieß. Ich muss aber sagen, dass ich mich aus der Klarnamendebatte bisher immer herausgehalten habe, weil ich da auch keine rundum überzeugende Lösung anzubieten habe.
Flaschenpost: Meldeten andere Landesverbände schon Interesse an dieser Variante an?
cmrcx: Wir haben eine Anfrage aus einem anderen Landesverband erhalten. Ich möchte aber noch nicht verraten, welcher es ist. Und noch ein anderer Verband hat Interesse signalisiert. Ich war mit der bayrischen Installation in der letzten Zeit aber so beschäftigt, dass ich mich noch nicht besonders darum kümmern konnte.
Flaschenpost: LiquidFeedback wird aus Datenschutzgründen nicht auf Servern der Piratenpartei betrieben. Wie ist das in Bayern?
cmrcx: PirateFeedback läuft in einer virtuellen Maschine auf einem Server der Bayern-IT und die Admins sind alle Piraten. Wenn ich dem Wiki glauben darf, ist das beim LiquidFeedback des Bundes auch nicht anders. Die drei dort angegebenen Admins sind alle Piraten. Vom Datenschutz wäre es vielleicht noch ein kleines bisschen besser, wenn wir das alles von jemandem außerhalb der Partei machen lassen könnten. Aber da müssten wir erst mal jemand finden, der das macht und viel Geld können wir dafür ja auch nicht ausgeben. Im Endeffekt wäre der Aufwand unverhältnismäßig hoch.
cmrcx: Die Bayern waren vor allem deshalb solche LQFB-Muffel, weil die Bedingungen bisher aus Berlin vorgegeben wurden und jegliche Kritik zurückgewiesen wurde. Wenn wir nun selbst bestimmen können, was wir haben wollen, fallen viele Gründe weg, die uns bisher von der Teilnahme abgehalten haben. In den letzten Tagen haben sich schon viele Piraten beteiligt, die auf LiquidFeedback nicht gut zu sprechen sind. Bei unserer Präsentation, einen Tag nach dem Versand der Einladungen, waren bereits 500 Mitglieder angemeldet. Wichtiger als die Frage, wie viele Piraten an PirateFeedback teilnehmen, ist für mich aber, dass wir in dieser seit zwei Jahren auf der Stelle tretenden Diskussion und Baustelle nun einen großen Schritt weiter gekommen sind.
Flaschenpost: Welche Features aus LQFB sollen in PirateFeedback noch geändert werden?
cmrcx: In nächster Zeit werde ich vor allem weitere, kleinere Verbesserungen und Bugfixes machen. Ich habe für das nächste Release die Navigation noch einmal überarbeitet, so dass man schneller zu den wichtigen Stellen gelangt und eine bessere Übersicht hat. Was wir an den bestehenden Features noch ändern könnten, wird bereits im PirateFeedback diskutiert. Es gibt da interessante Vorschläge. Ich habe momentan keine Pläne, irgendetwas herauszunehmen oder grundsätzlich anders zu machen, sondern nur ein paar Erweiterungen.
Flaschenpost: und was steht in der Wishlist für spätere Versionen?
cmrcx: Mein wichtigstes, aber auch anspruchsvollstes Vorhaben ist eine integrierte Diskussion. Es soll möglich sein, auch Gegenargumente zu einer Initiative anbringen zu können. Bisher werden dafür oft die Anregungen missbraucht. Für jedes Gegenargument gleich eine alternative Initiative schreiben zu müssen, ist zu umständlich und führt teilweise zu Abstimmungen über solche Initiativen, die nichts außer einem Gegenargument enthalten. Die Beiträge sollen auf jeden Fall irgendwie bewertet werden können, damit man nicht alle Beiträge lesen muss.
Flaschenpost: Wirst du das System also dauerhaft betreuen?
cmrcx: Ja, so sieht es aus. Ich werde zwar von der SG LiquidFeedback Bayern tatkräftig unterstützt, aber wir haben momentan noch niemanden, der sich ebenfalls mit der Programmierung des Dings auskennt. Der Fardizzle macht Koordination und Kommunikation, Kimi und Merl kümmern sich um die Administration des virtuellen Servers, Mark Huger macht die Mitgliederverwaltung, und alle zusammen und noch einige weitere
Leute kümmern sich um die Supportanfragen. Bei den technischen Fragen unterstützt uns ganz hervorragend die Bayern-IT, vor allem der ws_pirat.
Flaschenpost: Wie schaut die Dokumentationssituation aus?
cmrcx: Ich habe schon einiges an Dokumentation erstellt, je nach Zielgruppe im Wiki, im Redmine der Bayern-IT oder im Code. Aber ich kann auch immer nur die Dinge dokumentieren, die ich bereits verstehe. Die Dokumentationslücke von LiquidFeedback werde ich kaum füllen können. Andererseits denke ich, wenn ich es geschafft habe, mich in eher kurzer Zeit einzuarbeiten, sollten andere das auch schaffen.
Flaschenpost: Wird das PirateFeedback von Dritten auf Einhaltung der Datenschutzvorschriften und auf IT-Sicherheit geprüft werden?
cmrcx: Wir stehen im Kontakt mit Rainer Obermeier, dem Datenschutzbeauftragten des LV Bayern. Mit ihm haben wir die Datenschutzfragen besprochen und das System entsprechend eingerichtet. Die Sicherheit hat bis jetzt niemand zusätzlich geprüft. Wenn jemand diesen Job übernehmen will, fänden wir das gut. Auf Anwendungsebene dürfte sich aber gegenüber LiquidFeedback nichts sicherheitsrelevantes geändert haben.
Flaschenpost: Vielen Dank für deine Programmierleistung und die Beantwortung der Fragen.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.