Ein Gastartikel von Enno Lenze. Er kürzte seinen ausführlichen Bericht für die Flaschenpost.
Kurdistan
Als Kurdistan bezeichne ich hier die Autonome Region Kurdistan im Nord-Irak (ohne die syrischen, iranischen oder türkischen Kurdengebiete). Während der Irak selbst nach dem Irakkrieg noch immer politisch instabil ist, herrschen in Kurdistan inzwischen weitgehend stabile Verhältnisse und die Sicherheitslage ist gut. Seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 entwickelt sich die Region sehr schnell und ist relativ autonom. Es gibt seit 1991 ein Regionalparlament, das 2002 eine eigene Verfassung für Kurdistan verabschiedet hat. Außerdem gibt es eine eigene Flagge, eigene Visa, eigenes Militär (die Peschmerga) und eine eigene Polizei. Mit
meinem kurdischen Visum hätte ich nicht in den Irak einreisen können; andersrum gilt es genau so. Im kurdischen Parlament sitzen momentan 17 Parteien auf 111 Sitzen (davon 6 in einem Parteienbündnis und 6 Parteien von Minderheiten), was sicher nicht einfach ist, aber von einer lebendigen Demokratie zeugt. Ich kann mich hier frei bewegen, ohne Waffen, ohne Schutzweste und ohne Angst zu haben.
Mein Trip
Durch einen Freund wurde ich auf das Domez Refugee Camp
aufmerksam. Er arbeitet für die kurdische Regierung und ermöglichte mir, das Camp anzusehen. Ich wurde mit Fahrer, Dolmetscher, guten Unterkünften, dem Management der Termine und vielem mehr unterstützt und überall mit offenen Armen und freundlichen Worten empfangen. Leider hatte ich nur wenige Tage Zeit, habe aber währenddessen trotzdem interessante Gespräche mit lokalen Politikern geführt. So unterhielt ich mich mit dem Generalseketär der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Fazil Mirani.
Wir sprachen über die politische Entwicklung im Land und den möglichen Beitritt der Türkei zur EU. Später empfing mich der Gouveneur des Distrikts Dohuk, Tamar Fattah, um mit mit über die Piratenpartei Deutschland und die syrischen Flüchtlinge zu sprechen.
Domez Refugee Camp
Das Camp wurde bekannt, als es vor Kurzem von Angelina Jolie besucht wurde. Ban Ki-Moon war zwar in der Gegend, kam aber nicht vorbei. Das Camp grenzt inzwischen fast an den nächsten Ort, ist also gut zu finden. Das Gelände ist zwar umzäunt, man kann aber relativ frei rein und raus. Am Eingang stehen Leute mit kleinen Ständen und verkaufen Obst, Gemüse, Zigaretten und Handykarten. Viele sehen übernächtigt aus, aber man sieht keine offensichtlich unversorgten Verletzungen. Trotz des Regens und des nassen Bodens hört man kein übermäßiges Husten oder Nießen, die Kleidung sieht oft gespendet und durcheinander, aber grundsätzlich vollständig und intakt aus. Alles keine Selbstverständlichkeiten.
Nach einem kurzen Gespräch mit dem Leiter des Camps, Niyaz Noori Bamarny, konnte ich mir das Camp ansehen. Es steht auf matschigem Boden, in dem man teils stark einsackt. Im Normalfall bewohnt eine Familie ein Zelt. Sie haben oft Strom, nicht wenige haben sogar Satelliten-TV. Es gibt relativ viele sehr einfache Toiletten und viele Wasserspender. In den Zelten haben die Flüchtlinge einfache Matratzen, Decken, Kleidung, Essen, Wasserflaschen, selten persönliche Gegenstände.
Die Grundversorgung klappt also durchgehend. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass sie ausreichend medizinisch versorgt werden, genug zu essen haben, raus können und es auch Einrichtungen für die Kinder zum Spielen gibt. Es gibt sogar die Möglichkeit, im Camp seinem (alten) Job nachzugehen. So traf ich einen Schuster, in einem Container gibt’s einen Friseur, kleine Essensbuden und, für mich ganz abgefahren, einen kleinen Handyladen mit diversen Modellen, Prepaid-Karten usw.
Gleichzeitig sind diese kleinen Läden auch Orte, an denen sich die Leute treffen und reden. Sie erzählten mir, dass die meisten wenigstens aus Syrien fliehen konnten, ohne dass man ihnen das Leben schwer machte. Dass die Kurden auf der anderen Seite der Grenze helfen, war den meisten bekannt; dass es Lager gibt, wussten sie auch grob. Dann wurden sie an den Grenzen in die richtige Richtung geschickt. Ob sie selber Kurden oder Araber sind, ist dabei egal, es werden alle gleich aufgenommen.
Eine Familie erzählte mir, dass sie auf dem Weg durch Syrien von Leuten ausgeraubt wurden und dass das immer wieder vorkommt. Man fragt sich dann, was man den Leuten noch rauben kann. Sie sagten: Einfache Dinge wie den letzten Schmuck, Besteck, Essen. Ein Besitzer eines kleinen Obststandes erzählte, er habe schon in Syrien Obst verkauft, aber er habe immer den Kopf einziehen müssen, wenn Assads Soldaten vorbeikamen. Hier kann er erhobenen Hauptes handeln, wenn auch nur im Flüchtlingscamp. Er darf sich zwar im Land frei bewegen, kennt aber niemanden, zu dem er gehen könnte. Also bleibt er, wie so viele, im Camp.
Die Kinder des Camps können die lokale Schule besuchen. Sie lernen dort grundlegende Dinge und freuen sich, weil es Abwechselung und Normalität in das triste Leben im Camp bringt. Ein paar jüngere Kinder fragten mich, ob ich auch vor dem Krieg geflohen sei. Als ich das verneinte und erklärte, dass ich freiwillig da bin, guckten sie etwas kritisch und fragten, warum man freiwillig da ist, wenn man doch gehen kann.
Das Camp wird dauernd erweitert und wächst in verschiedene
Richtungen. Obwohl das Camp ursprünglich für 1.500 Menschen geplant war, befinden sich derzeit schon fast 70.000 Menschen hier. Es kommen täglich 200-800 neue Leute an, die erfasst und versorgt werden müssen. Sie
erhalten volle Bewegungs- und Arbeitsfreiheit in Kurdistan und haben
keine Auflagen, nach einer bestimmten Zeit das Land wieder zu verlassen
— alle dürfen bleiben. Da die Regierung davon ausgeht, dass viele
bleiben werden, entstehen nach und nach einfache gemauerte Gebäude, etwa auf dem Niveau von Schrebergartenhäuschen. Aber immerhin hat man so ordentlichen Schutz vor Wind und Wetter und es gibt einem eine Perspektive. Insgesamt machen viele Leute einen relativ entspannten und fröhlichen Eindruck. Die Situation ist nicht gut, aber sie haben den Krieg hinter sich gelassen und wissen, dass sie sich hier eine neue Zukunft aufbauen können.
Gegen Ende des Besuches gab ich noch die Spielsachen, die mein Unternehmen spendete, in der Kinderbetreuung ab. Wegen des begrenzten Fluggepäcks waren es nur einige Aufzieh-Trabbis und ein paar Teddies. Aber in einem solchen Camp kann man auch mit diesen Dingen Kinderaugen zum Leuchten bringen. Ein sehr kleiner Beitrag — aber die Devise heißt immer noch “alles, was hilft!”
Fazit
Diese Reise hat mir wieder bestätigt, wie wichtig es ist, sich Dinge wie ein Flüchtlingscamp vor Ort anzusehen und das persönliche Gespräch zu suchen. Ich wurde zu diversen weiteren Gesprächen eingeladen, für die ich erneut nach Kurdistan reisen werde. Ich werde auch wiederkommen, um zu sehen, wie sich dieses Camp entwickelt. Ich hoffe, in anderen Krisengebieten der Welt das Gleiche tun zu können.
http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.