Warum ist die Aufregung über PRISM eigentlich so groß? Dass abgehört wird, ist ja keine Neuigkeit. Neu ist vielleicht, dass dank eines Whistleblowers das Ausmaß nun weniger abstrakten deutlich wird. Doch anzuklagen ist nicht nur die NSA; allen Beteiligten ist völliges Versagen vorzuwerfen.
Barack Obama: In seiner Amtszeit wurde die Überwachung innerhalb und außerhalb der USA massiv ausgeweitet. Nun wissen wir, dass die Abhörbefugnisse, die vom Gesetz abgedeckt sind, bei all ihrer Monströsität doch nur die Spitze des Eisberges sind. Der Präsident, der 2008 mit “Yes we can” in den Wahlkampf zog, und Schutz für Whistleblower im Wahlprogramm hatte wurde zum “Yes we scan” Präsidenten, der Edward Snowden zum Staatsfeind Nr. 1 erklärte.
Edward Snowden: Wir wissen nun, dass es ein Abhörsystem Namens PRISM gibt. Doch ist trotz der Leaks nicht klar, wie es genau funktioniert. Sicher ist nur: Keine Mail ist sicher, kein Facebookeintrag, kein Telefongespräch. Wie die Daten abgeschöpft werden, bleibt jedoch im Dunkeln. Wer sich schützen will, muss wissen auf welchem Weg Daten abgezapft werden. Mittels verordneter Netzwerknoten bei den amerikanischen Providern? Beim Anbieter eines Dienstes selbst? Durch unentdeckte Sicherheitslücken, durch die sich die NSA Zugang verschafft? Die Veröffentlichungen nutzen nur, wenn sich ein Wissen ableiten lässt, wie eigene Daten zu schützen sind. Sonst sind die Leaks kaum mehr als ein Roman, bei dem ein leichter Schauder über den Rücken läuft.
Deutsche Internetnutzer: Eine Umfrage ergab, dass rund die Hälfte der Befragten die Internetüberwachung für richtig halten. Es ist nicht nur so, dass sie beliebte Dienste wie Facebook, Skype oder Google Mail nicht verzichten wollen. Nein, 49% gaben an sich nicht überwacht zu fühlen und befürworten es sogar, dass Regierungen das Internet nach verwertbaren Informationen durchkämmen. Bei der Volkszählung Anfang der 80-er Jahre wurden Fragen nach der Größe der Wohnung und Anzahl der Kinder als Verletzung der Privatsphäre empfunden. Betrachtet man, was sich in drei Jahrzehnten die Wahrnehmung des Privaten änderte, darf man auf die 40-er Jahres dieses Jahrhunderts gespannt sein.
Wir alle: Dass die USA lauschen war eigentlich bekannt. Echelon, auch ein Abhörsystem der USA, ist seit spätestens 2001 bekannt. Und dass die Bankdaten, die die EU-Mitgliedsländer freiwillig (!) via SWIFT-Schnittstelle an die USA liefern, nicht nur der Terrorabwehr dienen, konnte man daran erkennen, dass Beweise für von deutschen Firmen gezahlten Bestechungsgelder bei internationalen Ausschreibungen auftauchten. PRISM wird, darauf deutet einiges hin, ähnlich wie damals Echelon aus dem Bewusstsein verschwinden. Verschlüsselung von Mails wird sich auch jetzt nicht durchsetzen, obwohl sie auch für Laien beherrschbar ist.
Deutsche Politiker: Über Jahrzehnte wurde erfolgreich verhinderten, dass hier größere Unternehmen entstehen, die damit Geld verdienen, was 30 Jahre nach der ersten E-Mail hierzulande noch immer als “neue Medien” bezeichnet wird. Dass der Großteil der Internetkommunikation über die USA fliest ist, beabsichtigt oder nicht, ein Ergebnis dieser Verhinderungspolitik.
Deutsche Innenpolitiker: Kaum war der Abhörskandal in den Schlagzeilen, riefen sie “wir wollen das auch”. Ungeachtet, dass schon die Vorratsdatenspeicherung vom Verfassungsgericht bemängelt wurde, soll nun auch in Deutschland die Überwachungsschraube weiter angezogen werden. Nach dem großen Lauschangriff, der Bestandsdatenauskunft, dem Bundestrojaner und den vorgeschriebenen Abhörschnittstellen bei deutschen Internetanbietern. Hat niemand diesen Politikern beigebracht, dass man nicht an Türen lauscht? Dass man nicht die Briefe anderer Leute liest, auch nicht wenn sie auf dem Tisch liegen? Scheinbar schauen solche Leute nicht nur heimlich, sondern ganz ungeniert durch Schlüssellöcher und grinsen frech dabei. Besondern pikant daran ist, dass dieses Treiben von konservativen Politikern, die in Sonntagsreden die Einhaltung von Werten fordern, ganz besonders dreist betrieben wird.
Angela Merkel: Deutschlands Kanzlerin sprach PRISM beim Obama-Besuch an. Wie nicht anders zu erwarten fiel die Kritik mild aus. Nicht nur weil die Bundeskanzlerin, trotz der herausragenden Position die sie in Europa einnimmt, sich nicht in der Position befindet dem US-Präsidenten Vorschriften zu machen. Eher weil ihr Parteifreunde im Nacken sitzen, die ein Stück vom Abhörkuchen haben möchten. Dass Frau Merkel, 30 Jahre nachdem die erste E-Mail nach Deutschland geschickt wurde, das Internet als “Neuland” bezeichnete zeigt allerdings schön, wie dringend wir Piraten im Bundestag gebraucht werden!
Ob der Wähler auch Teil des Skandals ist wird sich am 22. September erweisen. Finden sich 5%, die eine Partei in den Bundestag wählen, die sich wie keine andere gegen Abhören und den Überwachungsstaat einsetzt? Derzeit hat das Bekanntwerden von PRISM keinen Einfluss auf die Umfrageergebnisse. Bleibt es so, wird auch dies zum Skandal.
Ausnahmsweise richtig verhalten sich zur Zeit übrigens die Urheberrechtshardliner. Anders als es zu erwarten war, wurde die NSA von ihnen nicht dazu aufgefordert die abgefischten Daten zur Aufklärung von Urheberrechtsverstößen zu übermitteln. Allerdings gab es in diesen “Kreisen” auch keinen Aufschrei, weil die NSA das schöne PRISM-Logo selbst kopiert hat.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.