Ich muss verrückt sein. Aber der Regionalexpress fährt langsam aus dem Bahnhof raus. Hinter mir ein kreischendes Kind, über mir ein plärrender Schaffner aus dem Lautsprecher der von Verspätung und Streckensperrung spricht, vor mir in weiter Ferne Salzburg, das Ziel meiner spontanen Reise. Was war geschehen? Die Piraten in Österreich riefen nach Hilfe, denn zur Nationalratswahl am 29. September fehlen noch Unterstützerunterschriften. Sie müssen für die Zulassung zur Wahl zwar nur 2600 Untersterstützerunterschriften vorweisen, doch können diese nur unter der Woche gesammelt werden, weil in Österreich sofort die Bestätigung auf dem Gemeindeamt geholt werden muss. Nachdem der Hilfeaufruf in der Flaschenpost nur wenig Resonanz auslöste und auch die Flyer, die ich ausdruckte und in Piratenkreisen verteilte, keinen Run auf Österreich auslösten, nahm ich mir spontan einen Tag Urlaub und saß am nächsten Tag gleich nach der Arbeit in einer Bummelbahn nach Salzburg.
Der Zug war gerade über die zwei Grenzflüsse gefahren, als ich schon kein Netz mehr hatte. Wann war das zum letzten Mal passiert? Selbst im Urlaub in Frankreich haben wir immer Netz. Jetzt saß ich da ohne Chance zu kommunizieren. Wie sollte ich den österreichischen Piraten finden, der mich abholen wollte, wenn Twitter nicht funktioniert? @_smax und ich erkannten uns zum Glück sofort und warten gemeinsam noch eine Stunde auf Verstärkung aus Würzburg. Kevin Lübke, über diesen Namen kann man lange nachdenken, kam pünktlich an und wir fuhren dann zum übernachten zu @_smax. Dort plauderten wir bis 1 Uhr bei Stiegl und Heurigem über Piraten, Trolle, Alkohol und das Alter, ab dem hier das Rauchen erlaubt ist. Über die 3.000 Mitglieder, Programme, andere Parteien und was wir für den nächsten Tag geplant hatten: In der Fußgängerzone von St. Johann im Pongau Unterstützerunterschriften zu sammeln.
Nach dem Frühstück buchte ich gleich eine Internet-Flatrate für 3€. Die eingehenden Mails sorgten für ein Dauergeklingel und ließen mich die etwas kurze Nacht vergessen. Der Antrieb zu dieser Investition war weniger die Sorge plötzlich alleine und ohne Verbindung zur Außenwelt in der Fußgängerzone eines mir unbekannten Ortes zu stehen. Es war eher ein “ja klar, das geht ja ohne Internet gar nicht”-Erlebnis. Dieses hatte ich beim Versuch die Erlebnisse gleich zu notieren um diesen Artikel schreiben zu können. Doch ohne Netzzugang funktioniert die Spracherkennung nicht. Mit den transkribierten Notizen im Telefon und dem ständigen “bling” der ankommenden Mails fuhren wir nach St. Johann.
In der Fußgängerzone von Salzburg wäre sicher mehr los, aber die Touristen sind dort stark in der Überzahl. Was wir Bayern nicht bedacht hatten: Die Piratenpartei in Österreich trägt die Farbe lila. Ich hatte nur ein orangefarbenes Hemd dabei, das nicht einmal ein spezielles Piratenhemd war. Ich glaube nicht, dass ein durchschnittlicher Österreicher dessen Unterschrift wir ja wollten, die Farbe der Piratenpartei Deutschland erkennt. Wie wir Deutschen umgekehrt die Parteifarben in Österreich nicht kennen.
Die größte Konkurrenz für die Piraten geht wohl von der neu gegründeten Partei NEOS aus. Dabei handelt es sich hinter den Kulissen um ein Spin-Off der ÖVP, also der Konservativen, die junge Liberale mit einer eigenen Partei anlocken will. Dabei scheint Geld kein Rolle zu spielen, die Spenden sprudeln kräftig und Hans Peter Haselsteiner, ein österreichischer Industrieller, verspricht jede eingehende Spende zu verdoppeln. Gar nicht so dumm die Österreicher! Eine eigene Partei für die Jungen abspalten und dank einer kurzen Leine bei den Finanzen stets einen zuverlässigen Koalitionspartner haben.
Ganz unabhängig von den Chancen die 4% Hürde zu nehmen ist es in Österreich wichtig in allen Bundesländern anzutreten. Denn nur Parteien, die in allen Bundesländern antreten, werden zu Fernsehrunden eingeladen. Hätte den Piraten auch nur ein Bundesland gefehlt … nicht auszudenken, um wie viel das die Chancen drückt.
Wir schauten uns vor dem Gemeindeamt um, gingen einige Meter die Strasse runter und auch hoch und warfen auch einen Blick in das Büro der Meldestelle um Sepp, den Büroleiter auf unseren Besuch einzustimmen.
Ich erzählte Kevin von meinem Plan auf die Hilfsbereitschaft der Passanten zu setzen und “Können Sie mir bitte helfen?” zuzugehen. Um dann zu erklären, dass die Piraten Hilfe in Form einer Unterschrift brauchen, um zur Wahl zugelassen zu werden.
Mein erster Versuch ging mächtig daneben als ich ein “Ne” als Antwort bekam. Kevin konnte nicht widerstehen und setzte ein “so so, todsicherer Trick” drauf. Seine Strategie darauf hinzuweisen, dass wir extra aus Deutschland angereist waren, weil uns die Sache so wichtig war, verfing da schon eher. Eine Frau unterschrieb gegen das Versprechen, dass wir sie dann nicht weiter aufhalten. Denn sie müsse nach Hause für ihre Tochter kochen, wenn die aus der Schule kommt. Ich versuchte mir nicht vorzustellen, wie die Spagetti beim servieren wohl aussehen werden wenn sie jetzt, um 10:30 Uhr, in den Topf kommen.
Ein alter Mann schimpfte “I hob kei Zeit” kaum, dass wir den Mund aufmachten und ging mit drohend erhobenem Zeigefinger an uns vorbei. Weit hatte er es aber nicht mehr bis zu dem kleinen Park neben dem Amt, wo wir ihn 1/2 Stunde später auf der Parkbank Tauben füttern sahen.
Es passierte mir mehrfach, dass ich zwar Passanten überzeugen konnte, sich beim Unterschreiben aber herausstellte, dass entweder der Wohnsitz nicht in St. Johann war oder es an der passenden Staatsbürgerschaft fehlte. Wir hatten bis zur Mittagspause gerade mal 5 Unterschriften gesammelt. Ich änderte nach der Pause meine Strategie und fragte zuerst “Sind Sie aus St. Johann?” Das funktionierte viel besser. Die Frage kürzte das Verfahren sehr ab, trotzdem lief es nicht gut für uns. Wir konnten keine weitere Unterschrift mehr verbuchen. Deswegen beschlossen wir, nach Salzburg zu fahren und unser Glück dort vorm Kiesel, einem Einkaufszentrum mit Einwohnermeldeamt, zu versuchen.
In Salzburg selbst schaffte @Enterhaken vorm Kiesel 29 Unterschriften. Wir hatten Pech, zu unseren 5 Unterschriften kam in Salzburg nichts weiter dazu. Wir konnten aber erleben wie @Enterhaken auf Passanten zu- und eingehen kann. Und verstanden sofort, wie es zu diesem Twitter-Nick kam.
Ich fuhr Abends nach München zurück, die Österreicher und Kevin planten die nächsten Tage. Aus Vorarlberg wollten einige Piraten anreisen, so dass für die letzten zwei Tage rund zehn Österreicher, weitere vier Bayern und zwei Schwaben auf die Suche nach Unterstützern gehen konnten. Am Montag davor war Fabio Reinhardt aus Berlin schon im Burgenland und hatten dort geholfen.
Bis zum Stichtag wurden tatsächlich genug Unterschriften gesammelt, genau genommen stand das schon einen Tag vorher fest. Die Piraten werden in jedem Bundesland auf dem Wahlzettel stehen, vor allem werden sie auch in Fernsehrunden dabei sein. Ich fragte gar nicht, wie groß letztlich der Puffer war, ob meine zwei Unterschriften den Ausschlag gaben oder ich mir die Zugfahrt hätte sparen können. Ich freue mich einfach, dass ich dabei war. Dass ich Piraten eines anderen Landes kennen lernte, dass ich mich auf die Reise machte – und die Aktion den erhofften Verlauf nahm. Falls es bei der Nationalratswahl am 29. September mit dem Einzug ins Parlament klappt, habe ich ein klein wenig dazu beigetragen. Darauf bin ich stolz.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.