
Letzten Samstag, am 27.07.2013, gingen in vielen deutschen Städten Bürger gegen Abhörprogramme wie PRISM und Tempora auf die Straße. Auch die Untätigkeit der gewählten Volksvertreter stand dabei in der Kritik. In Berlin zählte man 1000 Demonstranten, in Hamburg laut heise.de fast 2000. Organisiert wurden diese Demonstrationen von Parteien und Bündnissen. Ganz vorne mit dabei: Piraten. Uns ist es zu verdanken, dass in allen grösseren Städten des Landes der Protest auf der Straße stattfand. Wir sammelten Erfahrungsberichte aus München, Lübeck, Bielefeld, Stralsund und vielen anderen Städten:
Bericht aus München von Michael Renner:
In München gingen fast 1000 Demonstranten auf die Straße. Bei 37°C im Schatten führte die Strecke meistens durch die sonnenbeschienenen Teile der Stadt. Es ging vom US-Konsulat zum Amerikahaus. Diese Orte waren gezielt gewählt, um beim Konsul unser Thema laut kund zu tun, und um am Amerikahaus an die Förderung der Demokratie zu erinnern. Denn das Amerikahaus wurde nach dem Krieg gegründet, um uns Deutschen etwas von der amerikanischen Demokratie beizubringen. Auf dem Weg durch die Stadt hupten und winkten uns viel Autofahrer zu. Die Polizisten, die uns begleiteten, waren luftig angezogen und sahen die Veranstaltungen sehr entspannt.

Die meisten Fahnen wehten in orange, aber auch Grüne, SPD und Amnesty waren angetreten. Leider gab es ganz am Anfang ein unschönes Gerangel, als die Träger der roten Fahnen versuchten, sich für die Pressefotos weit in den Vordergrund zu bringen. Selbstverständlich ist so viel Engagement gegen Überwachung zu begrüßen. Auf der anderen Seite nutzt es leider nichts, wenn die Basis gegen Überwachung auf die Straße geht, während die Parteioberen das Verlangen nach Privatsphäre als Getöse abtun.
Wir Piraten trugen bei der Organisation der Demonstration die Hauptlast und waren auch in großer Anzahl vertreten. Besondern schön ist das in einem Video auf youtube zu sehen, in dem auch Teilnehmer zu Wort kommen. Katharina Nocun trug eine mitreißende Rede zur Kundgebung bei. Ganz auf die Sache konzentriert, weit weg von jeder Parteipolitik und vor allem ohne dieses peinliche „Ich bin auf Listenplatz 22, wählt mich“-Gerede, das bei einigen Grünen, die in meiner Nähe standen, einen plötzlichen Anfall von Fremdschämen auslöste.
Mit dabei waren Junge und Alte. Die Jungen hatten oft ihre Kinder dabei. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Älteren schon 1983 gegen die damals geplante große Volkszählung auf die Straße gegangen waren. Da wir im Anschluss an die Demo eine Cryptoparty geplant hatten, flyerten wir kräftig und sahen später, bei der mit nicht ganz 200 Interessierten gut besuchten Cryptoparty, tatsächlich einige Teilnehmer der StopWatchingUs-Demo wieder. Die nächste Demo gegen Überwachung ist bereits angemeldet. Am 31.08. geht es am Karlsplatz in München los. Ich werde dabei sein. Hoffen wir, dass das Wetter demofreundlicher wird.
Bericht aus Lübeck von Jörg-Stefan Witt:
In Lübeck wurde die Demonstration vom Verein Chaotikum veranstaltet. Außerdem nahmen Mitglieder der Piratenpartei und DIE PARTEI teil. Es waren auch Privatpersonen anwesend. In allen Ansprachen wurde die Gefahr von Programmen wie TEMPORA, aber auch PRISM und INDECT angesprochen. Und dass Personen wie Julian Assange, aber auch Bradley Manning und Edward Snowden, nicht verfolgt werden sollten. Viele Menschen kamen auf uns zu und suchten das Gespräch.
Von den Piraten in Bielefeld von Sabine Martiny:

Am Samstag trafen sich in Bielefeld vor dem alten Rathaus über 100 Demonstranten. Alubehütet demonstrierten sie gegen die Totalüberwachung aller Bürger: „Aluhüte gegen Big Brother“. Am offenen Mikrofon machten verschiedene Redner sehr deutlich, was es heißt, die Schere im eigenen Kopf zu spüren, ein gläserner Bürger zu sein, unbescholten aber unter Generalverdacht! Die Demonstration bewegte sich in Richtung Hauptbahnhof und wurde erst aufgelöst durch die himmlische Reaktion auf über 30 Grad Hitze: Gewitter, strömender Regen, Hagel und Sturm können das ungute Gefühl von immer mehr Bürgern aber nicht wegfegen. Die Piraten waren mehrheitlich vertreten und haben sehr deutlich gemacht, dass sie für Freiheit und Bürgerrechte stehen.
Weitere Bündnis-Demos zum Aktionstag #StopWatchingUs in NRW (von Sasa Raber, Patrick Viola und anderen):

Auch die Piraten in NRW nahmen am vergangenen Samstag am bundesweiten Aktionstag #stopwatchingus teil und organisierten Bündnis-Demos in vielen Städten. Hunderte Menschen fanden sich in Münster, Bielefeld, Köln, Aachen und Bochum ein, um gegen Spähprogramme wie PRISM, TEMPORA und XKeyscore und für unser aller Grundrecht auf Privatsphäre zu demonstrieren.
Die Demonstranten in Bochum riefen unter anderem: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man dir die Freiheit klaut.“ Keine leere Floskel, wie sich zeigte. Einige Passanten unterbrachen ihren Einkaufsnachmittag in der Bochumer City, um sich in die Demo einzureihen.
„So viel Spontanität erlebt man selten“, sagt Udo Vetter. „Oft sind es halt die kleinen Dinge, die belegen, wie sehr ein Thema die Menschen bewegt.“ Das tatsächliche Ausmaß der Überwachung komme natürlich mit einer gewissen Verzögerung bei den Menschen an. Ebenso die bittere Erkenntnis, dass die Freiheit nur noch auf dem Papier steht, wenn man nicht mehr unbefangen kommunizieren kann. „Ich bin sicher, dass wir bei den nächsten Demonstrationen mit noch viel mehr Teilnehmern wiederum deutliche Signale setzen können.“
„Es ist nun unser aller Aufgabe die Menschen zu informieren und ihnen bewusst zu machen, was es mit uns und unserem Verhalten geschieht, wenn wir bei allem was wir machen und sagen beobachtet werden“ so Marina Weisband. Sie erklärte in Ihrer Rede bei der Abschlusskundgebung in Münster, dass jeder Einzelne von uns von dem aktuellen Überwachungsskandal betroffen sei: „Jeder soll sich einfach mal vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn er nur 1 Minute lang angestarrt wird!“ so Weisband. Sie forderte alle Demonstranten auf, mit ihren Freunden, Arbeitskollegen und Familien darüber zu sprechen: „Ihr seid gerade die wichtigsten Menschen, die unsere Demokratie hat! Ihr habt euch im wichtigsten Kampf der Gegenwart dazu entschlossen, auf die Straße zu gehen und für eure Grundrechte und damit für den Erhalt der Demokratie zu kämpfen“. „Auf Überwachung folgt Repression“, ergänzte Daniel Schwerd, Sprecher für Netz- und Medienpolitik der Piratenfraktion im Landtag NRW. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen in geheimen Lagern verschwinden werden, weil die Überwachungssoftware gesagt hat, sie seien gefährlich.“

Auch in Bochum gingen die Menschen auf die Straßen, überparteilich organisiert waren Piraten, Grüne und Die Linke, und haben gemeinsam mit den Bürgern demonstriert. Nicht ganz pünktlich, da der Platzregen erst um 13:37 endete, startete die Demonstration am Husemannplatz in Richtung Hauptbahnhof, wo die erste Kundgebung stattfand. Die Redebeiträge waren gerecht unter allen Parteien aufgeteilt. Keine hat die Redezeit zum Wahlkampf genutzt, sondern lediglich aus verschiedenen Sichtweisen auf die Probleme hingewiesen. Auch wenn die Polizei nur von 150 Teilnehmern spricht, wir haben am Start selbst über 300 gezählt. Gegen 15:30 endete die Demonstration am Platz Des Europäischen Versprechens.
In den nächsten Wochen und Monaten werden die Piraten NRW auch weiterhin im ganzen Land Kryptoparties und Vorträge über die Geschichte der Geheimdienste und die gesellschaftspolitischen Auswirkungen von Überwachung anbieten. „Ganz unabhängig vom Wahlkampf, ist es unser Bildungsauftrag und unsere Pflicht allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu informieren.“ so Sasa Raber.
Bericht aus Stralsund von Eno Thiemann:
„Überwachung? Nee, habe ich kein Problem mit.“ Etwa Mitte vierzig ist sie, lässt sich dabei von mir Flyer zu „PRISM und MV liest mit“ in die Hand drücken. Samstagmittag, die sengende Hitze des endlich-einmal-richtigen Sommers steht in der Einkaufsmeile von Stralsund. Und wir Piraten mittendrin, große Demonstration gegen PRISM und Überwachung heute in der Stadt, und wir machen gerade mit einem Infostand vor Angela Merkels Büro auf uns aufmerksam. Piraten aus dem ganzen Land kommen, auch Bernd Schlömer, um in einer Kundgebung nach einem Umzug durch die Stadt vor Merkels Büro ein paar ernste Worte an die nicht anwesende Kanzlerin zu richten. „Sind sie ja selber schuld, wenn se so doof sind“, fährt die Mittvierzigerin ungerührt fort und lächelt mich an, „wenn se mich abhören, wenn ich abends mit meiner Kollegin telefoniere. Bringt denen doch nichts.“ Pfiffig denke ich, das wird sie überzeugen: „Aber Sie duschen doch auch nicht in aller Öffentlichkeit?“ „Selber schuld, ich bin nun auch nicht mehr die Schönste. Gehe schon immer zum FKK-Strand.“ Mist.

Fleischer
Erstaunlich interessante Gespräche ergeben sich in der brütenden Mittagshitze am Infostand. Auch wenn sich viele an diesem tropischen Samstag nicht von ihrem Wege abbringen lassen und freundlich danken, bevor man seine Mission in einem Halbsatz formulieren kann, treffen wir immer wieder auf Menschen, die neugierig sind, fragen und eine Meinung haben. Und nicht alle sind so unbekümmert wie die Dame, die in der Öffentlichkeit duschen würde. Wir werden kritisch beäugt, belächelt und von anderen als notwendige Änderung in der Politik begriffen, die ein wichtiges Thema platziert. Mecklenburg-Vorpommern ist kein einfaches Pflaster, hier kennt man die Piraten noch nicht so gut. Und trotzdem suchen viele das Gespräch.
Wie bei jeder Aktion der Piraten wird auch bei dieser Demo fast alles kurzfristig organisiert und manches improvisiert. Aber irgendwie klappt es dann doch. Gegen 13 Uhr (statt 12) gibt es auf der Wiese vor dem Hansagymnasium erste Reden, weil nun endlich die Gäste aus Niedersachsen, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Sachsen-Anhalt, Bayern und Nordrhein-Westfalen da sind. Angenehmes Beisammensein, in ungezwungener Weise, wie man es von den Piraten kennt. Piraten, Urlauber und Einheimische sitzen auf der Wiese verstreut, hören, sonnen sich, gucken zu, während das offene Mikrofon herumgereicht wird. Es werden klassische Vergleiche zur Stasi gezogen, historische Beispiele massenhafter Datensammlung und das Supergrundrecht Sicherheit aufgegriffen. Neben uns steht derweil geduldig die Orange Pearl, das Piratensegelboot. Die Polizei hält sich entspannt am Rande, daneben die Menschen vom Fernsehen mit Kamera und Katze.
Um 14 Uhr kommt mehr Bewegung in die Anwesenden: der Demozug vom Hafen über die Altstadt bis zu Merkels Büro soll jetzt losgehen. Da Bernd Schlömer noch in einem Zug steckt, der längst da sein sollte, warten wir noch. Mit schließlich knapp einer halben Stunde Verspätung ziehen wir los.
Wir sind gut gelaunt, die Sonne scheint, und wir laufen mit fast schon zu energischem Schritt los. Vorbei an den Hafenrundfahrtenfahrern, die uns voller Neugier mit den Blicken begleiten, vorbei an den Ozeaneumbesuchern und Kaffeetrinkern, die interessiert herüberschauen, nur eben nicht aufstehen und spontan mitlaufen. Jetzt ist auch Bernd dabei. Nachdem wir aber den Hafen langsam hinter uns lassen, bleiben vermehrt Menschen stehen und schließen sich dann unserem lauten Zug an. Mit Megaphon und wiederholten Rufen machen wir deutlich: „Nie wieder Überwachungsstaat!“ – „Wir sind hier, es ist heiß, wegen Überwachungsscheiß!“ – „Nie wieder Stasi!“ Vereinzelte Piraten versorgen Gäste mit Infomaterial, ansonsten bahnt sich die wachsende Demonstration in guter Laune den kurzen Weg durch die Heiliggeistraße, vorbei an der Polizeidienststelle bis zu ihrem Ziel: Merkels Büro, ironischerweise über dem „Camp David“, einer Filiale der Klamottenkette.

Hier kommt der Zug mit mittlerweile gut 100 Demonstranten vorerst zum Stehen. Angekommen. Die schmale, samstägliche Ossenreyerstraße gebietet, dass schließlich nahezu der komplette Fußgängerverkehr zugunsten unserer Abschlusskundgebung anhalten muss. Es wird geguckt, wenig skeptisch, viel Grinsen und Wohlwollen. Ach, die Piraten? Trotz Themen statt Köpfen kommen wir an diesem Nachmittag auch nicht ohne Prominenz aus, um die wählerische Aufmerksamkeit der Medien auf uns zu ziehen. Anke Domscheid-Berg, Sandra Tiedtke, Cornelia Otto, Bernd Schlömer und Melanie Kalkowski reden bewegt und bewegend darüber, was nicht sein darf und nicht sein muss. Der Ort ist wirklich sehr geschickt ausgewählt, um für mehr Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und weniger Kontrollhunger des Staates zu mahnen. Wir klatschen begeistert und zufrieden und freuen uns über eine gelungene Stopwatchingus-Demo. Noch voller Adrenalin erklärt @Eisenschild, örtlich verantwortlicher Pirat, die Demo für erfolgreich beendet. Er weiß vor Euphorie gar nicht mehr, ob und wie er aufhören soll. Schön.
Nach dem ganzen Trubel sammeln wir unseren Infostand zusammen und treffen kurze Zeit später am Hafen wieder auf die grillbereiten Piraten aus dem ganzen Land. Der Abend verläuft nun in angenehmen Wellen mit Würstchen, Grillkäse, Bier und Wasser. Wir genießen ein paar angenehme Stunden Zusammensein mit Menschen, die wir wahrscheinlich erst zu einem Parteitag wieder sehen werden. Von den Stralsundern und Urlaubsgästen kommen nur noch wenige vorbei. Die unbekümmerte Frau hat wahrscheinlich gar keine Zeit und telefoniert gerade mit ihrer Kollegin. Oder duscht.