Klagen, dass das Urheberrecht genutzt wird, um unliebsame Inhalte aus dem Netz zu entfernen, gibt es viele. Meist trifft der Vorwurf zu, ist aber nur schwer beweisbar, da das Urheberrecht scheinbar über allen anderen Gesetzen steht, und so andere berechtigte Interessen aushebelt.
Heute war der Tag, an dem das Urheberrecht als Begründung diente, politisch Interessierten aus Deutschland den Zugriff auf den Stream der Aufstellungsversammlung der Piraten in Österreich zu verbieten. Anders als die Piratenpartei Deutschland haben sich die Piraten in Österreich die Wahl der Kandidaten bis zum letztmöglichen Augenblick aufgehoben. Am heutigen Samstag findet die Bundesgeneralversammlung mit der Wahl der Listenkandidaten statt.
Die Versammlung wird live via Youtube gestreamt. Leider nicht nach Deutschland, denn statt des Streams wird die bekannte Sperrmeldung eingeblendet: Die GEMA könnte etwas dagegen haben! Die Übertragung einer poltischen Veranstaltung mit dem bekannten Ablauf aus GO-Anträgen, Kandidatenvorstellungen, Wahlgängen, noch mehr GO-Anträgen und schliesslich der Verkündung des Auszählungsergebnisses wird vorsätzlich gesperrt. Es ist Zensur wie in den schlimmsten Zeiten des Kommunismus! Selbst für deutsche Verhältnisse ein neuer Tiefpunkt.
Zensur wie in China, der Türkei oder in Syrien. Deutschlands Gesetze nennen es nicht so, weil das Urheberrecht die Möglichkeit zu Sperren bietet, ohne das hässliche Wort Zensur bemühen zu müssen. Doch wie sonst soll die Sperrung politischer, für die GEMA selbst vielleicht unliebsamer, Inhalte genannt werden? Schlimmer noch ist der Verdacht, dass nicht die GEMA die Vorabsperrung erwirkt hat, sondern Youtube selber den Stecker zog – aus Angst vor möglichen Klagen der GEMA. So oder so ist eine Partei betroffen, die für eine Reform des Urheberrechts antritt und die Anpassung der Gesetze an das Internetzeitalter auch im Europawahlprogramm hat. Leider werden das nur wenige Menschen erfahren – dafür sorgt die Sperre.
Befürworter von Websperren weisen den Vorwurf der „Zensur“ in der Regel zurück, da die Vorlage von Inhalten nicht „vorab“ verlangt wird und es keine spezielle Zensurbehörde gibt, die eine explizite Freigabe erteilen muss. Doch wie soll im Zeitalter des Internets die Sperre eines Streams mit politischen Inhalten bezeichnet werden, von dem eben zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal gesagt werden kann, ob ein Teilnehmer seine Redezeit am Mikrophon nutzt, um statt für eine Reform des Urheberrechts zu plädieren, für einige Sekunden ein Liedchen pfeift, an dem die GEMA die Rechte nicht eingeräumt hat?
Die Aufnahme der Aufstellungsversammlung lässt sich aufrufen, die befürchteten Urheberrechtsverletzungen blieben offensichtlich aus.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.