
Europa ist die Tochter des phönizischen Königs Agenor und der Telephassa, so sagt es die griechische Mythologie. In die verliebte sich Zeus, in einen Stier verwandelt, und entführte sie. Das mag romantisch klingen – seine Geliebte zu entführen. Zugleich aber ist es gewalttätig. So ist die Geschichte des Kontinents Europa auch. Wir sagen oft, seit 70 Jahren sei das nun anders. Was aber zum Beispiel die kriegerischen Konflikte auf dem Balkan in den 1990ern verdrängt – die so sehr beendet sind, dass dort noch immer die KFOR-Truppen der NATO, darunter auch deutsche Kontingente, stationiert sind.
Geographisch reicht Europa bis zum Ural, darin sind die westlichen Teile Russlands eingeschlossen. In der täglichen Diskussion verwischt das, so dass wir gewöhnlich Europa mit der Europäischen Union gleichsetzen. Und man darf andererseits davon ausgehen, dass aus russischer Perspektive die EU mit den europäischen NATO-Partnern gleichgesetzt wird. Dennoch wäre da eine differenzierte Sichtweise zu empfehlen, nicht nur der russischen Politik, sondern auch uns. Eine NATO-Mitgliedschaft würde ich Österreich genauso wenig empfehlen wie Norwegen eine EU-Mitgliedschaft. Und die Türkei, ihres Zeichens NATO-Mitglied, könnte für die EU keine Brückenfunktion in den Nahen Osten spielen, wäre sie EU-Mitglied.
Was ist das heutige EU-Europa?
Das politisch verfasste Europa, die Europäische Union, beruht in seiner gegenwärtigen Form auf dem Vertrag von Lissabon , der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, und auf dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag).
Der Lissabon-Vertrag stellt keine Verfassung dar. Eine solche müsste zu aller oberst die Grundrechte der Bürger festschreiben, die Staatsform, die Verfassungsorgane dieses Staates, also die Institutionen der Legislative, Exekutive und Judikative, ihre Abgrenzungen gegeneinander und ihr Zusammenwirken und die Rechte der Bürger gegenüber diesen Institutionen und Organen. Genau das leistet der Lissabon-Vertrag nicht. Darüber hinaus müsste die Verfassung das Zusammenwirken der heutigen Staaten mit dem übergeordneten Gebilde, sei es Bundesstaat oder Staatenbund, regeln. Das schließt so komplizierte Fragen ein wie z. B., ob wir ein parlamentarisches System mit einer Kammer oder mit zwei Kammern haben – letzteres wäre ein mögliches Mittel, den kleinen Staaten der Gemeinschaft eine angemessene Mitwirkung zu garantieren.
Wie funktioniert die EU grob gesehen? Wir wählen alle fünf Jahre das EU-Parlament wie am kommenden 25. Mai, aber dieses Parlament hat kein Initiativrecht, Gesetze einzubringen. Es bestätigt (oder auch nicht, was bisher aber noch nie vorgekommen ist) den Präsidenten der EU-Kommission, den der Europäische Rat (das sind die Staats- bzw. Ministerpräsidenten der EU-Mitgliedsländer) nominiert hat. Bei der Nominierung des EU-Kommissionspräsidenten soll der EU-Rat die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament berücksichtigen. Fußnote: Das ermuntert z. B. Marin Schulz von der SPD und Jean-Claude Juncker, tatsachenwidrig einen auf die Kommissionspräsidentschaft ausgerichteten Wahlkampf zu führen, Juncker sogar mit der dreisten Aufschrift „Juncker for President“ auf seinem Tourbus.
Die Ratsmitglieder schlagen dann jeweils einen Kandidaten aus ihrem Land als EU-Kommissar vor (allerdings ohne Zuordnung zu einem Ressort) und nehmen die so entstandene Liste als Gesamtheit mit qualifizierter Mehrheit an, und bestimmen zusammen mit dem EU-Kommissionspräsidenten den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik. Alle zweieinhalb Jahre wählt der Europäische Rat noch den Präsident des Europäischen Rates, der dessen Sitzungen leitet, darin aber kein Stimmrecht hat. Ansonsten ist die EU-Kommission eine Mischung aus Exekutive und Legislative, die, da es keine EU-Gesetze gibt, in die Legislative der Mitgliedsländer und damit in ihre Souveränität hineinregiert.
Um das besser zu verstehen, übersetzen wir das einmal in die Termini des deutschen Grundgesetzes. Das hieße, dass nach der Bundestagswahl die Ministerpräsidenten der Bundesländer den Bundeskanzler nominieren und der Bundestag dann zustimmen oder ablehnen kann. Dann nominiert jeder Ministerpräsident einen Ministerkandidaten, die Ministerpräsidenten verabschieden die Ministerliste en gros und bestimmen mit dem Kanzler zusammen den Außenminister. Alle zweieinhalb Jahre würden die Ministerpräsidenten dann noch den Bundespräsidenten wählen. Das Bundeskabinett würde die Gesetze beschließen und die Bundesländer hätten sie auszuführen. Entspricht das unserem Verständnis von Demokratie?
Ein Verfassungsprojekt unter Valéry Giscard d’Estaing war 2006 gescheitert, aber auch das wäre ein Vetragswerk und nicht im eigentlichen Sinne eine Verfassung gewesen. Dieses Vertragswerk hätte ähnliche Defizite gehabt wie der Lissabon-Vertrag.
EU-Europa, €-Europa und keine gemeinsame Stimme
Tatsächlich haben wir in der EU praktisch zwei Europas, nämlich die 18 Staaten mit der gemeinsamen Währung des Euro und die zehn mit eigenen Landeswährungen. Aber selbst die Euro-Staaten haben keine gemeinsame Wirtschaft- oder Finanzpolitik. Tatsächlich hat krisenbedingt das Euro-Europa seit 2008 die politischen Prozesse der EU dominiert, außer in der Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Die GASP gibt es seit dem Masstricht-Vertrag von 1992, de facto existiert sie aber lediglich auf dem Papier. Das Amt des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik täuscht da über die Fakten hinweg. Man stelle sich vor, die Atomwaffen- und Weltkriegssiegermächte Großbritannien und Frankreich ließen die übrigen EU-Staaten über den Einsatz ihres Nukleardispositivs mitbestimmen, oder sie gäben ihre Sitze im UN-Sicherheitsrat zugunsten eines Sitzes für die EU auf. Dabei ist das ja gar nicht einmal die Frage eines wie auch immer gearteten „europäischen Idealismusses“, sondern, real-politisch betrachtet, was könnten denn die übrigen 26 EU-Staaten ihnen für diesen Machtverlust als Kompensation anbieten? Nichts.
In der Konsequenz redet die EU nicht mit einer Stimme. Dass das in der jüngsten Vergangenheit anders gewirkt haben mag, kann sein. Da schienen die Merkel‘schen Spardiktate die Linie schlechthin der nach innen gerichteten Politik der EU zu sein. Was aber die gegenwärtig dominanten außenpolitischen Themen angeht, gibt es keine Linie, ja kann es keine Linie geben. In die NSA-Affäre ist Großbritannien durch seine Rolle als eines der Five Eyes und seinen Geheimdienst GCHQ zutiefst verstrickt, gar kompromittiert. Immerhin geht es bei der NSA-Affäre darum, dass sich unsere engsten Partnerstaaten von den konstituierenden westlichen Werten des Schutzes des Privatsphäre und des nicht öffentlich gesprochenen Wortes verabschiedet haben. Die Rolle, die diese unsere Partner ihren Geheimdiensten zugestehen, verspottet alle Werte der Demokratie. Das muss nach außen über den EU-Rahmen hinaus fatal wirken. Putin spielt in gewisser Weise mit dieser Ambivalenz des Westens.
Im Ukraine-Konflikt sieht es nicht besser aus. Es gibt einen EU-Sondergipfel, da reden EU-Kommissionspräsident Barroso, EU-Ratspräsident van Rompuy und die Hohe Vertreterin Baroness Ashton mit dem ukrainischen Interimspremier Jazenjuk. Kanzlerin Merkel telefoniert und telefoniert mit dem russischen Präsidenten Putin, Bundesaußenminister Steinmeier mit dem russischen Außenminister Lawrow, Steinmeier und Laurent Fabius, der französische Außenminister, bereisen Georgien und Moldawien, um diese Länder zu beruhigen, aber was sie tatsächlich tun, kann gegenüber Russland nicht deeskalierend wirken. Denn sie betreiben weiter die Assoziierungsabkommen mit diesen Staaten, die für Russland genauso wie die Ukraine Puffer gegenüber der NATO sind; schlimmer noch, sie widersprechen Georgiens Absicht, mittelfristig NATO-Mitglied zu werden, offenbar nicht einmal. Und der NATO-Oberkommandierende Breedlove stößt in dasselbe Horn, obwohl auf seinem Ticket mit absoluter Sicherheit die Erlaubnis zu politischen Äußerungen nicht steht. (»Breedlove stellte der Ukraine unter Umständen einen Nato-Beitritt in Aussicht. „Natürlich ist es an der Ukraine zu entscheiden, ob sie sich der Nato anschließen möchte“, sagte der US-General. „Wir zwingen niemanden beizutreten.“«)
Man erinnere sich. Im Bundestagswahlkampf und im Vorfeld des EU-Wahlkampfes ist Merkel stark kritisiert worden, sich nie wirklich klar zu Europa geäußert zu haben. Vielleicht ist an der Kritik von Günter Grass an Merkel ja doch etwas dran. Angela Merkel steht nicht für Überzeugungen, auf deren Basis man sehr wohl auch Realpolitik betreiben kann. Zumindest in der Außenpolitik muss man das aber. Da ließe sich im Ukraine-Konflikt eine gemeinsame Position der EU finden. Wenn man wolte. Dazu müsste Merkel aber die berechtigten Zweifel einiger EU-Staaten an der Sanktionspolitk ernst nehmen. Das wird sie aber vermutlich genauso wenig tun, wie sie die Kritik an ihrer Austeritätspolitik beachtet hat.
Krise der EU (1): Die vermeintliche Euro-Krise
Es gibt keine Euro-Krise. Der Euro ist eine Währung, und in einer Krise wäre sie, wenn sich z. B. nicht stabil gegenüber der Leitwährung US-Dollar verhielte. Ein kurzer Blick auf die Kursentwicklung des Euro gegenüber dem US-Dollar seit seiner Einführung zeigt aber das Gegenteil.
Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchgeld und am 1 Januar 2002 als Bargeld eingeführt. Interessieren muss uns hier in erster Linie der Zeitabschnitt seit 2008, dem Beginn der weltweiten Finanz-Krise. Und da verhält sich der Euro bemerkenswert stabil. Die heuristisch eingezeichnete Linie zeigt einen mittleren Kursverlust von 4,5% bis 5% in einem Zeitraum von sechseinhalb Jahre. Sechseinhalb Krisenjahren wohlgemerkt.

Bevor man die Krisen in den betroffenen EU-Ländern (insbesondere Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern) und neuerdings auch Frankreich mit einen gemeinsamen Namen belegt, sollte man sich vor Augen führen, dass die Krisen in diesen Ländern durchaus unterschiedliche Ursachen haben. In Spanien ist eine Immobilien-Blase geplatzt, in Griechenland ist die Ursache die Staatsverschuldung, die lange verschleiert worden war.
Deswegen sind Fragestellungen wie „Die Europäische Union: Zukunfts- oder Auslaufmodell?“ oder der Merkel‘sche Satz „Stirbt der Euro, stirbt Europa“ schlicht und ergreifend falsch. Hier wird aus welchen Gründen auch immer schwarz-weiß gemalt. Seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957, eigentlich seit Gründung der Montanunion 1951 hat das politisch verfasste Europa sehr viele Änderungen unterlaufen. Und Europa wird sich auch weiterhin verändern.
Die EU-Osterweiterung 2004 war vielleicht der größte Einschnitt der Entwicklung der EU, aber sie ist eben nicht Ursache der heutigen Probleme. Dass wir angesichts der Probleme der Südländer also vor einem möglichen Scheitern der Europäischen Projektes stehen, ist also wenig wahrscheinlich. Es ist der Phantasielosigkeit der führenden europäischen Politiker zuzuschreiben, dass so etwas überhaupt gedacht wird, insbesondere der Phantasielosigkeit von Kanzlerin Angie „Tina“ Merkel. „There is no alternative“? Falsch, es gibt Alternativen. Demokraten suchen Alternativen, um Lösungen herbeizuführen. Machtversessene nur, um ihre Macht zu erhalten.
Allerdings sollte man, selbst da nun Irland und Portugal den Rettungsschirm wieder verlassen haben, die wirtschaftlichen Krisen in der EU nicht kurzerhand für beendet erklären.
Krise der EU (2): Krise der Wertegemeinschaft
Es gibt aber Probleme in Ungarn, Rumänien un Bulgarien, die ich Krisen nennen würde, Krisen nämlich der europäischen Wertegemeinschaft. Dass sind in Ungarn der Aktivitäten der Regierung Orbán, die Demokratie, die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Judikative so weit einschränken, dass dies mit den Grundlagen der EU nicht mehr vereinbar ist. Hinzu kommt noch der von der Regierung geduldete offene Antisemitismus. Spätestens da müsste Tina auf die Barrikaden gehen.
In Rumänien und Bulgarien ist es vor allem die Diskriminierung von Sinti und Roma, die weder mit den Werten noch mit den Rechtsgrundlagen der EU zu vereinbaren ist.
Was auch sehr beunruhigend ist, sind die Annäherungen Bulgariens und Ungarns an Russland, an Oligarchie statt Demokratie.
Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind natürlich die Ärmeren in der EU, und das Versprechen, dass mit dem EU-Beitritt alles besser würde, ist für ihre Bevölkerungen bis heute nicht aufgegangen. Bei jeder EU-Erweiterung ging es für die, die schon dabei waren, um leichteren Zugang zu Märkten, also um Wachstumschancen, und für die neuen Mitglieder um Vermehrung des Wohlstands durch die Angleichung der Lebensverhältnisse. Mittelfristig. Und das muss gelingen, kann es auch, wenn man sich dessen bewusst ist, dass es ohne eine Umverteilung von „reich nach arm“ nicht geht, und daran arbeitet. Gewisse Wohlstandsgefälle gibt es immer, selbst innerhalb Deutschlands, aber es dürfen keine eklatanten Schieflagen entstehen oder bestehen bleiben, weil man sie gleichgültig hinnimmt. Sich so zu verhalten, hieße, weiter blind neoliberalen Ideen zu folgen. So ist Europa aber in seiner Entstehungsgeschichte seit den 1950er Jahren nicht angetreten.
Mit den Wertvorstellungen nicht zu vereinbaren ist natürlich auch die Kehrseite, nämlich das populistische Gefasel von der „Einwanderung in die Sozialsysteme“.
Allein, insofern die EU mit anderen Wirtschaftsräumen in Konkurrenz steht, müssen diese Ungleichheiten soweit wie möglich verringert werden, denn sonst sind wir unter Umständen viel zu sehr mit uns beschäftigt, als dass wir im Weltgeschehen positiv agieren könnten. Allerdings muss man eines beachten bei all dem Gerede über die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Staaten. Der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit ist auf Unternehmen anwendbar, denn sie stehen einerseits in Konkurrenz zueinander und können z.B. durch Kostensenkungen aufgrund von Innovationen Vorteile erringen oder durch neue Produkte ihre Tätigkeit auf weitere Märkte ausdehnen. Andererseits können sie aber auch vollkommen neue Märkte erschaffen. Staaten sind aber keine Unternehmen und können nicht so agieren, nicht nur weil sie unternehmerisch atypisch z.B. Schutzfunktionen ihren Bürgern gegenüber haben. Die Weltwirtschaft ist anders als das Wirtschaftsumfeld eines Unternehmens ein Nullsummenspiel. Alle Warenströme bleiben auf dieser Welt, wir können sie nicht durch Exporte zum Mond, zum Mars oder zum Sirius vergrößern. Nicht verkaufbare Waren ruinieren Unternehmen, also werden sie im allgemeinen nicht produziert. Natürlich gibt es Unternehmen, die am Markt vorbei produzieren und Bankrott gehen, aber für die Weltwirtschaft als Ganzes gilt dies nicht. Die Welt kann nicht Pleite gehen. Die einseitige Ausrichtung der Politik auf wirtschaftliche Aspekte und ihre Beschränkung auf die Schaffung von Standortvorteilen jedoch ist das Tina-Prinzip, und das ist werte-feindlich.
Ein Denken, das die Erweiterung der EU fordert, weil man einen Wachstumsmotor braucht, weil man ohne Wachstum nicht sein kann, ohne die grundlegende Werte der EU groß zu beachten, lässt auch die Assoziierung der Pufferstaaten zwischen der EU und Russland sinnvoll erscheinen. Bis wir heute kalt überrascht sehen, dass dieser Weg eine Krise ungeahnten Ausmaßes heraufbeschwört. Keiner scheint mehr einen Plan zu haben, und die Masken fallen. Das beste Beispiel dafür haben Kanzlerin Merkel und der französische Präsident François Hollande auf ihrem Treffen in Stralsund am 10. Mai gegeben. Sie bestehen auf der Durchführung der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine am 25. Mai unter der Androhung, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen, sollten die Wahlen nicht stattfinden. Man könnte sich fragen, was für eine Logik dem innewohnt. Gravierender ist aber, dass Merkel und Hollande mit dieser verqueren Verknüpfung, die zunächst nichts anderes auszusagen scheint als die Unterstellung, Russland wolle und könne die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine verhindern, im Grunde der Ukraine die Souveränität absprechen. Wenn Demokratie für Merkel und Hollande ein Wert wäre, würden sie verstehen, dass diese Wahlen zu diesem Zeitpunkt vielleicht gar nicht durchgeführt werden sollten, weil wichtige Voraussetzungen fehlen. Die Kiewer Regierung übt nicht mehr das Gewaltmonopol über das gesamte Territorium der Ukraine (einschließlich der Krim) aus, kann also keine allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen garantieren.
Wir haben in der EU eine Wertekrise, sie macht die heutigen EU-Spitzenpolitiker noch orientierungsloser, als sie es ohnehin sind.
Europa!
Es gibt Ansatzpunkte, wie Europa wieder eine Perspektive entwickeln kann. Da ist zum einen ein neues Verfassungsprojekt, das die Werte der Demokratie und Transparenz verfolgt. Als zweites die Herstellung eines sozialen Ausgleichs quer durch die EU, was das Ziel der gerechten und bedingungslosen Teilhabe für jedermann verfolgt. Diese Projekte erscheinen am vordringlichsten. In beiden steckt zugleich das Thema Informationsfreiheit. Die ihnen zugrunde liegenden Werte müssen darüber hinaus auch in der Außenpolitik der EU umgesetzt werden.
Das klingt im ersten Moment sehr nüchtern. Aber eine Europäische Verfassung ist eine Vision, wenn man an die Hindernisse bedenkt, die dem heute entgegenstehen. Einige stammen aus den Nationalgeschichten der Mitgliedsstaaten und den historischen Erfahrungen aus der europäischen Geschichte. Vor 225 Jahre begann die Französische Revolution, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde verkündet, vor 200 Jahre war die Revolution langst einem bürgerlichen Staat gewichen, wenn auch wieder als Königreich verfasst. Das letzte Jahrhundert hat zwei Weltkriege gesehen und die scheinbar stabile Periode des Kalten Krieges unter der Drohung der Mutual Assured Destruction . Nach dem Umbruch 1989/1990 hat es nicht die allseits erhoffte Friedensdividende gegeben, sondern eine neue Unübersichtlichkeit. Das „alte“ Paradigma der Weltpolitik war mit einem Mal verschwunden. Samuel Huntington hat in The Clash of Civilizations einige wichtige neue Verwerfungslinien der Weltpolitik aufgezeigt, an denen einige der gegenwärtigen Konflikt tatsächlich auch verlaufen. Anders die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Da spielt die territoriale Aufteilung, die England und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg vorgenommen haben eine wesentliche Rolle. Verschränkt ist dies unter anderem mit dem inner-islamischen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten und einem Dschihad gegen den Westen nach Art der Al-Quaida.
Aber Europa? Europa, potentieller von Nuklearwaffen ausgelöschter Kriegsschauplatz des Dritten Weltkriegs, muss überhaupt erst zu sich und damit eine Rolle als Weltmacht finden. Transparenz und Teilhabe und Informationsfreiheit sind die Themen, die aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken sind. Sie sind genuin, wenn auch nicht exklusiv europäische Themen, und keine primären amerikanischen, russischen oder chinesischen Themen. Aus diesen Themen erschließen sich neue Aspekte eines Freiheitsbegriffs, der sicherlich vom traditionellen amerikanischen Freiheitsbegriff abweicht. Indem Europa hier versucht, seine Vision zu verwirklichen, kann es seine Rolle finden. Allerdings ist dies keine Frage von wenigen Jahren, das könnte länger dauern. Und die Lösungen der Fragen nach der Verfassung und nach der Teilhabe und sozialem Ausgleich müssen auch nicht zwangsläufig mit derselben Geschwindigkeit voranschreiten. Die Menschen brauchen Teilhabe und sozialen Ausgleich zuerst und, wie ich meine, sehr bald . Aber dann muss das auf eine solide Grundlage gestellt werden, die einer Verfassung. Mit dem Blick auf das Ganze kann das auch gelingen.