Ein Gastartikel von Jürgen Blümer, Drensteinfurt.
Mit der bundesweiten Veranstaltungsreihe ‘Lesen gegen Überwachung’ am 10.02.2015, dem ‘Tag des sicheren Internets’, gelang es der digitalen Bürgerrechtsbewegung, in 18 Städten ein Zeichen gegen Überwachung zu
setzen und zahlreiche Menschen auf die massenhafte Ausspähung durch Staat und Internetkonzerne aufmerksam zu machen.
Wau – was für ein Satz! Und schon habe ich die zynischen Tweets vor Augen, die ein solches Statement regelmäßig provoziert:
- ‘Digitale Bürgerrechtsbewegung’ – die gibt es nicht!
- ‘Lesen gegen Überwachung’ – ist das jetzt ‘Fasten für den Frieden’ 2.0?
- Nur 21 Veranstaltungen – und das soll jetzt der ‘Widerstand gegen
Überwachung’ sein?
Beim Lesen solcher Plakatphrasen stelle ich mir oft die Frage, ob Zynismus eine angemessenen Haltung darstellt angesichts des massiven Angriffs auf Demokratie und Freiheit. Denn um nichts anderes geht es, wenn wir uns mit den Datensenken der Geheimdienste und Internetkonzerne
auseinandersetzen.
Wenn man aber zu dem Schluss gelangt, dass Zynismus nur eine Zuflucht der Ängstlichen und Hoffnungslosen ist, wie soll man anstelle dessen gegenüber dieser globalen, gesellschaftlichen Herausforderung auftreten? Insbesondere in einer Zeit, in der wir das Paradoxon erleben, dass trotz detaillierter Informationen über Massenausspähung sich nirgendwo ernsthaft ein relevanter politischer Widerstand zu regen scheint. Das Wissen, das wir durch Snowden erhalten haben, treibt die Menschen ja nicht auf die Straßen, sondern entfaltet vielmehr die Wirkung eines
lähmenden Gifts.
Womit wir bei der Veranstaltung vom 10.02. wären und bei der Frage, was ‘Lesen’ mit ‘Widerstand’ zu tun hat. Wenn es tatsächlich so ist, dass wir aus einer Schreckensstare erwachen müssen, um das Bewusstsein für den Umgang mit unseren Daten zu verändern, erscheint ‘Lesen’ genau als
der angemessenen Schritt, um sich eben auf diesen Weg zu begeben.
Ich selber war auf der Veranstaltung in Bielefeld, die im wesentlichen von digitalcourage abgehalten wurde. Das Publikum war sehr durchmischt – sowohl vom Alter als auch von dem technischen Vorwissen zur Überwachung. Und das ist der entscheidende Punkt: Sich zusammenzusetzen, Texte zu hören, selber zu lesen, Gedanken auszutauschen – als dies benötigt kein technisches Grundwissen, zieht keine Altersgrenzen hoch, sondern bedarf lediglich der Bereitschaft, sich gemeinsam mit anderen Menschen mit der Gefahr auseinanderzusetzen.
Damit stellt das ‘Lesen gegen Überwachung’ ein extrem niederschwelliges Angebot dar, sich darüber bewusst zu werden, dass wir schon längst in einem Überwachungsstaat leben. Und noch weiter: Lesen ist die ‘klassische Disziplin’ der bürgerlichen Zivilgesellschaft und im Prinzip
eine der Kriterien, über die diese sich definiert.
Und – Lesen ist Widerstand. Man nehme nur die drei großen Klassiker zum Thema ‘Überwachungsstaat’: ‘1984’, ‘Schöne neue Welt’, ‘Fahrenheit 451’. Überall dort ist das Lesen ein Akt des Widerstandes in einer gleichgeschalteten oder illiteralen Gesellschaft. Wer liest, bricht schon in Gedanken auf, überwindet Grenzen und denkt vielleicht schon das Unmögliche, das Unangepasst, das Unkalkulierbare. Nimmt ein Mensch dazu das Buch einfach aus dem Buchladenregal und zahlt in bar, ist er dabei noch nicht einmal zu überwachen.
Wenn aber nun Lesen Widerstand ist und Lesen Menschen zusammenbringt, die sonst nicht zueinander finden würden – wie dies in Bielefeld und auch in anderen Städten geschehen ist – dann lasst uns dieses Mittel weiter nutzen, um den Überwachungsstaat mehr und mehr zu entlarven. Eine digitale Bürgerrechtsbewegung kann nur zusammen mit der zivilen Bürgergesellschaft funktionieren. Es ist unsere Aufgabe, diese Menschen dort abzuholen, wo sie noch in Erstarrung verharren, um uns gemeinsam in Bewegung zu setzen.
Und irgendwann können wir dann auch ironiefrei für den Weltfrieden fasten.