
Die Agentur für Arbeit | CC-BY Tobias M. Eckrich
Das Wort Hartz IV gilt inzwischen als Synonym eines gescheiterten Sozialsystems. Der aktuelle Zustand ist in der Tat paradox. Einerseits wird es im Zuge des digitalen Wandels immer einfacher, eine Erwerbstätigkeit zu finden. Über entsprechende Plattformen wird man praktisch per Klick zum Verkäufer, Vermieter, Designer oder Entwickler. Auf der anderen Seite jedoch fährt die Politik immer härtere Bandagen auf, um die scheinbar arbeitsunwillige Bevölkerung zum Arbeiten zu zwingen. In einem anekdotischen Fall trägt ein Teenager Zeitungen aus, um das Familieneinkommen aufzubessern. Kurz darauf kürzt der Staat die ALG-Zuschüsse für den Vater in gleicher Höhe. Die Motivation zur Arbeit ist auf Dauer zerstört. Aber handelt es sich hierbei um einen Einzelfall, oder hat das System? Dieser Artikel macht eine Bestandsaufnahme.
Was bleibt von einem Euro?
Die nachfolgende Analyse beschäftigt sich mit dem hypothetischen Fall, dass ein Arbeitnehmer zu seinem bisherigen Einkommen einen Euro zusätzlich verdient. Die Frage lautet dabei: Welcher Anteil dieses Euros bleibt im System hängen und welcher Anteil steht dem Arbeitnehmer zusätzlich zur freien Verfügung?
Die nächste Grafik beantwortet diese Frage und widerlegt das Märchen vom progressiven Steuersatz. Abhängig vom aktuellen Einkommen auf der X-Achse zeigt sich der abzugebende Anteil auf der Y-Achse. Grob zusammengefasst, ergibt sich dabei folgendes Bild: Für Geringverdiener wird ein zusätzlicher Euro zu über 80% durch die Verringerung des Arbeitslosengeldes kompensiert. Im mittleren Einkommenssegment halten sich Sozialabgaben und Einkommenssteuer die Waage und schöpfen zwischen 43% und 63% ab. Bei hohen Einkommen werden nominell etwa 47% abgegriffen. Die Befreiung von der Sozialversicherung und eine unübersichtliche Liste an Abschreibungsmöglichkeiten führt aber oft dazu, dass die tatsächliche Steuerbelastung weit darunter liegt.
Abzüge im Detail
Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes folgt die obige Berechnung einem Beispiel auf Wikipedia. Dabei wird von einem Single ohne Vermögen und ohne Kinder ausgegangen. Bei angerechneten Mietkosten von 300€ wird der Arbeitnehmer bis zu einem Bruttoeinkommen von etwa 1325€ unterstützt. Je nach Lebenssituation kann diese Grenze aber etwas höher oder niedriger liegen. Fest steht, dass ab einem Monatseinkommen von 100€ nur 20% beim Arbeitnehmer im Geldbeutel landen. Ab einem Einkommen von 1200€ sinkt der verbleibende Anteil auf 0%.
Zusätzlich zum ALG II zahlt der Staat zahlreiche Transferleistungen. Laut Ex-Minister Niebel werden 153 verschiedene Leistungen von 44 verschiedenen Behörden ausgezahlt. Dazu gehören z.B. BAföG, Elterngeld, Kindergeld, Wohngeld und viele andere. Darüber hinaus gibt es für Geringverdiener zahlreiche Sparmöglichkeiten, wie GEZ- Befreiung, verbilligte ÖPNV -Tickets oder vergünstigte Eintritte. Auch wenn diese Leistungen nicht nur am Einkommen hängen, so ist doch klar: Mit jedem zusätzlich verdienten Euro wird die ein oder andere Vergünstigung reduziert oder fällt ganz weg.
Ab einem monatlichen Verdienst von 450€ wird ein Beitrag zur Sozialversicherung fällig. Der Arbeitnehmeranteil beträgt derzeit etwa 18%. Durch die Beitragsbemessungsgrenzen fällt der relative Anteil am Lohn jedoch mit steigendem Einkommen. Oftmals werden Spitzenverdiener auch vollständig von der Sozialversicherungspflicht befreit und können noch günstiger vorsorgen.
Die Einkommenssteuer ist für sich genommen progressiv. Tatsächlich können sich Spitzenverdiener arm rechnen und zahlen unterm Strich wesentlich weniger Steuern. Die Abschreibungsmöglichkeiten hängen natürlich nicht nur am Einkommen. Sie steigen aber mit zustätzlichen Mitteln und der Position in einer Firma. Wenn beispielsweise ein einfacher Arbeiter mit Kumpels einen Trinken geht, dann ist das Freizeit. Beim Manager ist dasselbe ein Sondierungsgespräch oder Team-Building. Wer neben dem Studium für wenig Geld jobbt, kann nichts absetzen. Wer nebenbei eine Firma geerbt hat, kann seine Fortbildungskosten an seine Einnahmen anrechnen. Bei all diesen Möglichkeiten bezeichnen viele unser Land als “Steuerparadies für Reiche”. (Siehe auch “Schön reich – Steuern zahlen andere”)
Die Mehrwertsteuer wird in dieser Analyse nicht betrachtet. Wer der Meinung ist, dass verschiedene Mehrwertsteuersätze einer sozialen Logik folgen würden, der kann sich von diesem Video eines besseren belehren lassen.
Wo sind die Verlierer?
Die Geringverdiener sind die Verlierer in doppelter Hinsicht. Erstens müssen sie sich in einem Papierkrieg mit den Behörden komplett nackig machen und um jeden Cent kämpfen. Danach wird ihnen jeder zuverdienter Euro fast vollständig wieder abgezogen. Soziale Anerkennung für die geleistete Arbeit sieht anders aus.
Tatsächlich steigt die Zahl der Geringverdiener ohne feste Anstellung rapide an. Unter ihnen befinden sich auch Hochqualifizierte, die als Kreative oder Unternehmensgründer ihr eigenes Ding durchziehen möchten. Der digitale Wandel bietet ihnen die Möglichkeiten dazu. Auch wenn nur wenigen der große Durchbruch gelingt, ein Blick über den Atlantik zeigt das Potential, das in dieser Gruppe steckt. Wir kennen die Geschichte von Steve Jobs, der mit einer warmen Mahlzeit pro Woche auf einer Matratze lebte. Auch der Gründer von WhatsApp wandelte sich vom Sozialhilfeempfänger zum Milliardär. Viele Gründer machen einen Tiefpunkt durch. Warum gibt unser Land ihnen nicht einfach eine Chance und kassiert im Erfolgsfall mit?
Es ist kein Wunder, dass die Piratenpartei bei Geringverdienern ihre größte Unterstützung fand. Diesen Menschen helfen keine leeren Versprechungen von Vollbeschäftigung. Weitere Transferleistungen und Mindestlohn kommen dort nicht an. Bürokratieabbau würde helfen, wenn er endlich auch mal für Arme umgesetzt werden würde. Die Sozialpiraten setzen mit einer Forderung nach Flat-Tax und Grundeinkommen wichtige Akzente für den Bürokratieabbau und einer wirksamen Grundsicherung. Das digitale Zeitalter ist von Automatisierung und Rationalisierung geprägt. Die Gesellschaft wird sich von dem jahrzehntelang kultivierten Ideal der Vollbeschäftigung verabschieden müssen. Wenn wir uns als Partei des digitalen Wandels verstehen wollen, dann brauchen wir auf diese soziale Frage eine Antwort.