Am 18.6.2015 verkündete Regierungssprecher Seibert via Twitter, man wolle zusätzliche Milliarden in die Entwicklungshilfe investieren, um unter anderem
Fluchtgründen entgegen zu wirken.
Diese Aussage ist gleich in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Zum Einen verwendet
Seibert das alte, vom Top-Down-Ansatz geprägte und mittlerweile aus dem Wording
der in der Entwicklungszusammenarbeit Tätigen weitgehend verschwundene Wort
„Entwicklungshilfe“, zum Anderen wird hier suggeriert, man müsse nur genügend
Geld in Entwicklungsprojekte stecken, schon würde der Zustrom von Flüchtlingen
aus afrikanischen Ländern aufhören.
Von der Abschaffung veralteter Strukturen und kolonialistischer Denk- und
Handlungsmuster ist ebenso wenig die Rede wie von einer grundlegenden Änderung
der deutschen und europäischen Außen- und Wirtschaftspolitik. Wir Piraten
fordern, man müsse die Gründe für Flucht und Vertreibung beseitigen. Damit ist
jedoch etwas grundsätzlich Anderes gemeint, als das, was die Bundeskanzlerin tut.
Afrika ist ein Kontinent mit 54 Staaten, flächenmäßig fast dreimal größer als
Europa, bevölkert mit über einer Milliarde Menschen, die dutzenden verschiedenen
Ethnien angehören.
Vor Leben, Kultur und Wirtschaft pulsierende Millionenstädte gibt es in Afrika
genauso, wie dünn besiedelte, weite Naturgebiete. Afrikanische Regionen sind so
unterschiedlich wie europäische – man kann sie nicht über einen Kamm scheren.
Afrika ist nicht einfach nur „ein Land“.
Fragt man jedoch hierzulande auf der Straße eine beliebige Anzahl von beliebigen
Passanten nach dem, was ihnen zu Afrika einfällt, bekommt man häufig
Schlagwörter wie Hunger, Not, Krieg, Flüchtlinge, Armut und Misswirtschaft zu
zu hören. Die Krisen- und Kriegsgebiete des Kontinents stehen in der
Wahrnehmung weit vor allem Anderen. Ganz unten in der Giftschublade der
Vorurteile findet eine unterstellte allgegenwärtige Korruption und Stereotypen darüber, dass Afrikaner alle faul, langsam, dumm und vielleicht noch Schlimmeres sind.
In Summe ergibt sich daraus der weit verbreitete Eindruck,
Afrika – ja, ganz Afrika – täte zusammenbrechen, würde der reiche, wohltätige
Westen nicht ständig Milliarden von Hilfsgeldern in diesen Kontinent pumpen.
Diese Einschätzung wird unter dem Eindruck der vielen humanitären und
wirtschaftlichen Probleme etlicher afrikanischer Staaten, wie sie in unserer
Medienlandschaft vermittelt werden, dann auch noch bestätigt. Wobei man sich
jeweils einen aktuellen Krisenherd herauspickt, diesen eine Weile lang
interessiert begleitet und sich dann anderen Krisenherden zuwendet. Aktuell
gilt das beispielsweise für Libyen und Teile Nigerias. Die Situation in Mali, der
zentralafrikanischen Republik oder dem Südsudan ist hingegen mittlerweile nicht
mehr schlagzeilenträchtig.
Selten hingegen findet man in den Medien und der Öffentlichkeit die Frage, ob es
den Krisenstaaten in Afrika nicht gerade deshalb schlecht ergeht, weil „der
Westen“ diese Hilfsgelder zahlt.
Man gebe in Google einmal „Entwicklungshilfe schadet“ als Suchbegriff ein,
stelle die Option „Artikel des letzten Jahres“ ein und sehe sich das Ergebnis an
– vor allem, welche Quellen dort auftauchen und welches Datum die dazugehörigen
Artikel haben.
Auf dem afrikanischen Kontinent werden die verschiedenen Aspekte der Entwicklungshilfe weitaus intensiver diskutiert. Prominente Wissenschaftler und Politiker aus verschiedenen afrikanischen Staaten kritisieren auf unterschiedliche Art und Weise und mit verschiedensten Ansätzen die Entwicklungspolitik des globalen Nordens – zum Teil so weit, dass sie deren Einstellung fordern. Prominenteste Beispiele hierfür sind im Westen z.B. James Shikwati oder Dambisa Moyo.
Sie stehen mit ihrer Sicht der Dinge nicht alleine. Wer mag, gebe bei Twitter
den Hashtag #bbcafricadebate ein und lese sich die Kommentare von Menschen
aus Afrika durch.
Entgegen dem dominanten Diskurs, der das Denken und Handeln der Öffentlichkeit,
ebenso wie weiter Teile der Entwicklungszusammenarbeits-“Branche“ prägt, sollten
wir Piraten genau das Gegenteil davon fordern: Schluss mit Top-Down-Ansätzen!
Wir brauchen einen Bewusstseinswandel: Die Beurteilung, was Entwicklung eigentlich ist und welche Ziele zu erreichen sind, darf nicht vom „reichen Norden“ definiert werden. Dialog, Projektentwicklung, Durchführung und Abwicklung auf Augenhöhe sind notwendig und keine ungezielten Geldtransfers in die Kanäle der „Entwicklungshilfeindustrie“,
sowohl im globalen Norden, wie auch im globalen Süden. Jede Art von Unterstützung muss sich an den Bedürfnissen vor Ort orientieren. Das Ziel von Entwicklungszusammenarbeit muss dabei sein, überflüssig zu werden!
Leider arbeiten viele staatliche Entwicklungsorganisationen und deren Dienstleister mehr daran, sich selbst und den eigenen Mitarbeitern ein dauerhaftes Auskommen zu verschaffen, als tatsächlich nachhaltig und dauerhaft die Notwendigkeit von Entwicklungszusammenarbeit zu beseitigen, in dem man in den Partnerländern echte Fortschritte erzielt, auf deren Basis diese selbst ihre weitere Zukunft gestalten können. Prominente sammeln mit den Bildern hungernder Kinder Milliardensummen ein, nur um sie völlig unnachhaltig in Nothilfemaßnahmen zu versenken. Konzerne betreiben Landgrabbing und Ressourcenplünderung, überlassen die negativen Folgen für die betroffenen Gesellschaften dann aber dem Sozialsystem – in Form von „Entwicklungshilfe“. Die Entwicklungshilfeindustrie, ein Milliardengeschäft, nimmt dies dann dankbar auf.
Wenn Fluchtursachen beseitigt werden sollen, muss vor allem die wirtschaftliche
Ungleichheit und die Dominanz des globalen Nordens über Märkte, Rohstoffe und
die Definitionshoheit von Entwicklung beendet werden. Unsere „Hilfen“ haben viel
zu oft negative Effekte auf die lokalen Ökonomien – sei es in Form von
„Kleiderspenden“, die als billige Second-Hand-Ware weiterverhökert werden, in
Form von Exportfleisch und anderen Nahrungsmitteln, die zu Preisen verschleudert werden, welche für die lokalen Bauern ruinös sind. Wer Menschen vor Ort die Lebensgrundlage zum Wohle des eigenen Wachstums entzieht, der sollte vorsichtig
sein, das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ in den Mund zu nehmen. Wer Regierungen stürzt und politische Systeme destabilisiert, Diktatoren und Despoten hofiert, der sollte die Verantwortung für Flüchtlingsbewegungen ehrlicherweise selbst übernehmen.
Von alledem müssen wir dringend Abstand nehmen. Ein großer Teil der Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen, flieht aus Gründen, die Europa mit zu verantworten hat. Deshalb brauchen wir einen umfassenden Politikwechsel: Eine
postkoloniale Entwicklungspolitik, eine Änderung der rein wachstums- und
marktdominanzorientierten Wirtschaftspolitik, eine partnerschaftliche, an
globalen Zielen orientierte Außenpolitik.
Zusammenarbeit muss ein gemeinsames Ziel haben – für die Piraten liegt dies in
einer globalen Wissens- und Informationsgesellschaft. Dass diese nicht jenseits
des Mittelmeers einfach aufhört, kann man an den wachsenden, vor Leben und
kreativen Ideen pulsierenden Großstädten vieler afrikanischer Staaten sehen –
man muss nur einmal den Blick von den LifeAid-Plakaten lösen und sich informieren.
Mit den Parteien der großen Koalition ist an einen solchen politischen wie
philosophischen Richtungswechsel nicht zu denken. Mit Piraten schon.