Vor einigen Tagen entbrannte eine vehement geführte Debatte auf einer der Mailinglisten der Piraten über den Nutzen und die Bewertung der sogenannten Tafeln zur „Armenspeisung“, die in den letzten Jahren zunehmend kontrovers diskutiert wurden. Diese versorgen bedürftige Menschen – im Umkreis der Einrichtungen euphemistisch ‚Kunden‘ genannt – mit gespendeten Nahrungsmitteln.
Was ist dran an dem Phänomen „Tafel“? Handelt es sich um respektable, ehrenamtliche Initiativen, oder verwalten diese Unternehmen nur die wachsende Armut in unserem Land und machen damit zweifelhafte Geschäfte?
Die ursprüngliche Idee zur Gründung solcher Initiativen stammt aus Amerika. In den USA gründete John van Hengel 1963 die erste sogenannte Food Bank, ein großes Lagerhaus für längerfristig haltbare Lebensmittelspenden. Dort entstand 1983 auch eine erste wohltätige Organisation. Mittlerweile existieren in Deutschland über 900 Tafeln. Die erste Einrichtung dieser Art wurde 1993 in Berlin gegründet. Es gibt einen Bundesverband „Deutsche Tafel e. V.“ mit organisierten Treffen. Diese Bewegung wird als größte soziale Initiative der letzten Jahre hochgelobt. Tatsächlich sind die Tafeln binnen der letzen Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die meisten Vereine sind Mitglieder des Bundesverbandes, es gibt nur wenige Tafeln, die davon unabhängig sind. Sie werden auch von der Bundesregierung regelmäßig für ihren Kampf gegen die Armut gewürdigt. Doch wie funktioniert das Tafel-Business rund um die Wohltätigkeit?
Die Trägerorganisationen sind offiziell Vereine, die sich über Spenden organisieren. Aber etliche Tafeln erhalten auch beträchtliche Zuschüsse von Kommunen. Indirekt profitieren sie auch von Zahlungen der Europäischen Union an „Lebensmittelbanken„. Die Europäische Kommission kauft nämlich seit 1980 Überschüsse aus der Agrarproduktion und stellt sie den Mitgliedsstaaten zur Verfügung.
Inwieweit die Spender der Lebensmittel Anteil an einem zweifelhaften Social-Business haben, ist schwer zu beurteilen. Ortsansässige Bäcker oder Metzger spenden mit Sicherheit ihrer ortsansässigen Tafel Waren von guter Qualität und sind zu Recht überzeugt, damit wertvolle Hilfe zu leisten.
Große Supermarktketten sind allerdings die Hauptlieferanten der Lebensmittel. Sie sparen Entsorgungsgebühren für abgelaufene Nahrungsmittel und Lagerkosten für Unverkäufliches.
Ein zusätzlicher Benefit ist der schöne, wohltätige Anstrich, diese Seht-her-wir-tun-was-gegen-die-Überproduktion- Geste. Dabei gehen die meisten Supermärkte rigide gegen das Containern vor, das heißt: gegen Menschen, die sich die sogenannten Abfälle aus den Müllcontainern organisieren, um gegen unsere Überflussgesellschaft zu protestieren. Dies ist nämlich eine unerwünschte politische Geste, das Spenden hingegen schafft ein positives Image. Diese bigotte Haltung der Supermarktketten kann man durchaus kritisieren.
Die Vereine selbst sind häufig davon überzeugt, dass sie Armut aktiv bekämpfen, positive Sozialkontakte bieten und ihren ‚Kunden‘ gesellschaftliche Teilhabe garantieren. Der prominenteste Kritiker der Tafel-Bewegung, Professor Stefan Selke, hat dieses Image allerdings in etlichen umfangreichen Studien als überhöhtes Selbstbildnis enttarnt und nachgewiesen, dass lediglich 10 bis 15 Prozent der ‚bezugsberechtigten Kunden‘ die Tafeln nutzen, alle anderen Zahlen seien hochgerechnet, um die Bedeutung der Einrichtungen zu überhöhen. Tafeln bieten nämlich, egal wie motiviert die ehrenamtlichen Mitarbeiter sein mögen, nur eines: abgelaufene oder unverkäufliche Lebensmittel. Die Auswahl ist zufällig, die Qualität unterschiedlich.
Sogenannte Kunden müssen zuerst ihre Bedürftigkeit nachweisen und bekommen einen ‚Ausweis‘ , so will es die deutsche Bürokratie. Dann erhalten sie die ‚Spenden‘. Viele empfinden das Procedere bei den Tafeln als demütigend und sehen diese als notwendiges Übel. In der Presse standen auch Organisationen, z.B. die Tafeln in Leipzig, in der öffentlichen Kritik. Teilweise mussten die Menschen stundenlang in der Kälte für ein paar Lebensmittel anstehen und durften nicht einmal die Toilette benutzen.
Hinzu kommt das Bewusstsein bei vielen Bedürftigen, sich von Abfällen unserer Überflussgesellschaft ernähren zu müssen. Kunde bei einer Tafel zu sein, erzeugt Stress, stigmatisiert und macht krank. Stefan Selke weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die hohen Kosten für unsere Gesellschaft hin, die nie auch nur ansatzweise geschätzt wurden.
Im Umkreis der Tafeln gibt es vieles, das keiner gerne sehen möchte: Abrechnungsprobleme und Betrug, teilweise gut verdienende Chefs, ausgebeutete Ein-Euro-Kräfte und knallharte Konkurrenz, denn der Markt ist durch die Vielzahl der entstandenen Tafeln weitgehend gesättigt.
Meist bekommen die Mitarbeiter der Tafeln zuerst die hochwertigsten Lebensmittel. Die „Kunden“ erhalten, was übrig bleibt. Manche werden bevorzugt, andere benachteiligt.
Entgegen dem Selbstbild der Tafeln, punktuell Soforthilfe zu leisten, sind etliche Menschen wider Willen Dauerkunden dieser Einrichtungen.
Zu niedrige Regelsätze der Hartz IV Grundsicherung verursachen den Bedarf. Wenn Jobcentermitarbeiter Zahlungen verzögern oder Sanktionen verhängen, drücken sie den Menschen gerne die Adresse der örtlichen Tafel in die Hand. Nicht erfasst werden Menschen, die ganz still unter der Armutsgrenze leben, weil sie Hartz IV nicht in Anspruch nehmen. Diese Menschen können nicht einmal auf Nahrungsmittelspenden hoffen, denn sie erhalten keinen ‚Berechtigungsschein‚ und müssen hungern. Tafeln versorgen also nicht einmal jeden in diesem Land, der Not leidet, sondern nur die, die es nachweisen können und wollen.
Und viele Bedürftige trauen sich auch einfach nicht in die lange Warteschlange, die auf dem Bürgersteig steht und von den „anständigen“ Bürgern wie Zootiere begafft wird (vgl. dazu: Selke: „Schamland„).
Im Grunde werfen die Tafeln ein grelles Schlaglicht auf unseren versagenden Sozialstaat. Die Armut wird dort nicht bekämpft, sondern verwaltet. Tafeln sind nicht viel besser als die Suppenküchen des 19. Jahrhunderts, wo Arme aus den billigsten Abfällen eine warme Mahlzeit bekamen. Der Staat macht es sich bequem und gibt die Verantwortung für die Menschen an privat organisierte Vereine ab. Man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass staatliche Versorgungslücken durch die Existenz der Tafeln legitimiert werden. Wozu sollte unser Staat die Missstände im Hartz IV System beseitigen, wenn sich im Schatten dieses Systems bereits ein lukratives Social-Business angesiedelt hat, das die Missstände ausgleicht, Arbeitsplätze schafft und zum profitablen Nutzen zahlreicher Unternehmen wirkt?
Dass dies in einem der reichsten Länder Europas notwendig sein soll und als ethisch vertretbar gilt, beziehungsweise als großes uneigennütziges Engagement gelobt wird, ist unfassbar und ein schlagkräftiges Plädoyer für die Einführung des BGE. Nur auf diese Art können Menschen ohne existenzielle Nöte leben und in Würde an der Gesellschaft teilhaben. Die Tafeln leisten jedenfalls keinen Beitrag zum nachhaltigen Kampf gegen die zunehmende Armut in unserem Land.
Die Tafeln – moderne Suppenküchen des 21. Jahrhunderts – sollte es gar nicht geben.