1984 – viele haben schon gehört, fast jeder Pirat hat es wahrscheinlich gelesen. George Orwells Roman über eine dystopische Zukunft erlangte viel Bekanntheit. Selbst unser Sprachgebrauch wurde von ihm geprägt: Big Brother für den (staatlichen) Überwachungsapparat, Neusprech für künstliche, aus politischen Gründen abgewandelte Sprache und Doppeldenk für die Fähigkeit, zweier widersprüchlicher Ansichten zu sein und beide zu akzeptieren.
Doch nicht nur Orwells Sprache hat Einzug in die Realität gefunden. Wenn auch 20 bis 30 Jahre später, als in seinem Roman, wird auch die Fiktion zur Wahrheit. Zumindest Big Brother scheint heutzutage allgegenwärtig zu sein: Anlasslose Überwachung durch Geheimdienste, Vorratsdatenspeicherung, Staaten, die Daten fast ohne Einschränkungen, sammeln, auswerten und gegen ihre Einwohner verwenden können.
Und doch, so erschreckend das auch – besonders für jeden, der 1984 gelesen hat – ist, scheint es nur der Anfang zu sein. Zumindest beweist das jetzt die Regierung Chinas mit einem neuen Spiel namens Sesame Credit.
Die Idee dieses Spiels entstammt der auch in der Wirtschaft immer beliebter werdenden Spiele-Theorie. Durch Gamification werden dabei spielerische Elemente in den alltäglichen Arbeitsablauf eingebaut, um den Arbeitnehmer zu motivieren und letztendlich die Produktivität zu steigern. Beliebt sind dabei Scoring-Systeme, in denen die Mitarbeiter im Wettbewerb zueinander stehen.
Genau diesen Ansatz wählt nun auch China. In Sesame Credit bekommt jeder Einwohner Chinas eine Punktzahl. Diese berechnet sich – nach Angaben der Betreiber Alibaba Group und Tencent – aus einem komplexen Algorithmus, dessen Arbeitsweise nicht bekanntgegeben wird. Doch natürlich müssen die „Spieler“ wissen, wie sie ihre Score beeinflussen können. Und das ist ganz einfach: Man muss nur ein gehorsamer und regierungstreuer Bürger sein.
Doch wie setzt man das um? Kann man denn genau messen, wie „gehorsam“ und getreu der Parteilinie ein Bürger ist? Im digitalen Zeitalter scheint das kaum noch ein Hindernis darzustellen, besonders, wenn man zwei der größten Technologie-Unternehmen Chinas mit im Boot hat. Zum einem ist das Tencent, die einer der weitverbreitetsten Social-Media-Anbieter Chinas ist und sich auch in der Spiele-Industrie als Eigentümer von Riot Games (League of Legends) und Aktieninhaber von Blizard/Activision (World of Warcraft, Call of Duty) sehr gut auskennt. Der andere Mitbetreiber ist die Alibaba Group, die sich vor allem im E-Commerce-Bereich in China etabliert hat und dort als Konkurrent zu Amazon fungiert.
Das Mitwirken dieser Firmen bedeutet aber nicht nur technisches Know-How, sondern vor allem eins: Zugriff auf Milliarden von Nutzerdaten. Wer postet was in einem sozialen Netzwerk? Wer schreibt was mit wem in einem Chat? Wer kauft was von wo ein? Das und noch vieles mehr sind Daten, auf die die beiden Unternehmen leichten Zugriff haben und die zur Auswertung der Scores herangezogen werden.
Es ist nun leicht absehbar, wohin dies führt. Postest du etwas über den Absturz der chinesischen Börse? Dein Scoring geht runter. Verlinkst du zu einem Artikel einer regierungstreuen Medienanstalt, die berichtet, wie gut es der Wirtschaft geht? Dein Scoring geht rauf. Kaufst du Waren im Internet von einem lokalen, chinesischen Anbieter? Scoring rauf. Importierst du aus Japan? Scoring runter.
Im Gegensatz zu einem Videospiel allerdings hat die Score bei Sesame Credit eine reale Auswirkung. Ab bestimmten Scores wird es dabei zum Beispiel einfacher, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Oder einen Kredit von einer Bank zu erhalten. Für eine geringe Score gibt es (noch) keine Strafen, aber auch dort gibt es Ideen, wie zum Beispiel die Einschränkung der Internet-Geschwindigkeit oder bestimmte Jobs, die man mit einer zu niedrigen Score nicht ausüben darf.
Noch nicht gruselig genug? Kein Problem, denn der wirklich besorgniserregende Teil dieses Systems ist der soziale Aspekt. Durch Social Media und Vernetzung weiß das Spiel natürlich auch, wer deine Freunde sind. Und es weiß auch, welche Score deine Freunde haben. Und nicht nur das: Die Scores sind öffentlich für jeden einsehbar und das Spiel benachrichtigt dich, wenn einer deine Freunde eine sehr niedrige Score hat. Denn das hat natürlich Einfluss auf deine eigene Score. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Ein gehorsamer Bürger kann nicht so gehorsam sein, wenn seine Freunde, Verwandten und Bekannten es nicht sind. Und es kommt noch schlimmer: Laut Planungsdokumenten, die vom chinesischen Staatsrat veröffentlicht wurden, „wird das System diejenigen belohnen, die Vertrauensbrüche anzeigen“.
Hier versteckt sich die größte Gefahr von Sesame Credit. Soziale Ausgrenzung ist durch ein solches System vorprogrammiert, höchstwahrscheinlich sogar gewollt. Derjenige mit der niedrigen Score ist der Verlierer, der Außenseiter. Der Nicht-Regierungstreue. Wenn das Spiel im Alltag angekommen ist und sich die Menschen darüber beim Essen, in Bars, Cafes und auf der Arbeit unterhalten, ihre Scores vergleichen – wie fühlt man sich dann mit einer niedrigen Score?
Es ist ein raffiniertes System, und das macht es so unheimlich. Der Schlüsselbegriff ist hier die „positive Bestärkung“. Um nicht-regierungstreue Bürger im Zaum zu halten, benutzten Regierungen früher (und auch teils heute noch) Angst als Mittel. Einschüchterung, Erpressung, Gewalt – alles, um Menschen mundtot zu machen. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass diese Vorgehensweise langfristig nicht funktioniert. Sie provoziert offene Gegenreaktion, die in vielen Fällen in Rebellionen und Revolutionen endet. Die positive Bestärkung ist anders. Sie belohnt regierungstreue Bürger, das ausgrenzen und mundtot-machen erledigen dabei die sozialen Strukturen. Genauso beschrieb es auch Orwell in 1984.
Ein weiterer, kluger Schachzug Chinas ist es, dass das Spiel bis jetzt nicht Pflicht ist. Jeder kann sich dazu freiwillig anmelden. Erst in 2020 ist geplant, dass jeder Bürger Chinas daran teilnehmen muss. Dadurch wird eines sichergestellt: Die ersten Freiwilligen (von denen es bereits Millionen gibt) sind die, die dem Spiel positiv gegenüber eingestellt und bereits mehr oder weniger regierungstreu sind. Und das verbreiten sie natürlich auch im sozialen Umfeld: Wie toll das Spiel ist und wie viel Spaß es macht. Score-Vergleiche werden bereits jetzt enthusiastisch auf Weibo, Chinas Gegenstück zu Twitter, geteilt.
Es ist verstörend, wie gut diese Spiel in China anzukommen scheint. Natürlich ist die Kultur, auch, was das Verhältnis gegenüber Technologie und Internet angeht, eine ganz andere, als in Europa. Dennoch fragt man sich, inwiefern so ein Spiel oder System auch in unsere gesellschaftlichen Strukturen Einzug finden könnte? Auch wir sind nicht weit entfernt davon, dass jeder Mensch einen Großteil seiner persönlichen Informationen im Internet hat.
Datenschutz und Datensicherheit werden immer ernstzunehmendere Themen. Dennoch vergessen wir sie im Alltag gerne, da sie meist unbequem und impraktikabel umzusetzen sind. Kommt es erst einmal so weit wie in China, ist es allerdings zu spät. Wann wird es aus der Dystopie Realität? Beginnt es mit einem „Spiel“ wie in China? Mit der Überwachung durch Geheimdienste? Mit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung?
Wir dürfen das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn mit einem hatte Orwell auf jeden Fall Recht: Big Brother is watching you.
Das erinnert mich ein bisschen an „Liquid Feedback“.
Aber das ist ja jetzt abgeschaltet.
Dein Artikel gefällt mir sehr gut!
Ich glaube unsere globale Gesellschaft braucht eine regionale oder nationale intimsphäre und eine Globale rote Linie, welche auf keinen Fall unterschritten werden darf. „Beisspiel: wenn unsere Frauen sich nicht mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen können, dann geht niemand mehr aus dem Haus bis dafür gesorgt werden kann, dass dies wieder möglich sein wird.“ (Das wäre regional oder national eine Selbstverständlichkeit und natürlich auch Global wünschenswert – dass dies leider nicht so ist sehen wir wenn wir Teile der Zuwanderung beobachten.)
Oder
„wenn unsere Freiheit auf ein festgesetztes Minimum auf diese oder jene Weise eingeschränkt wird, dann weigern sich alle ebenfalls aus dem Haus zu gehen. Ebenso müsste vorher klar sein, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn die technische Kommunikation nicht mehr funktioniert oder auf Dauer stark eingeschränkt würde.
Jeder Mensch sollte eine Art „Grundsatz AGB“ haben, damit er keinesfalls zum Sklaven verkommen kann. Diese für alle Menschen gleichen AGB’s (Mindeststandards) sollten zu seinem Vorteil mehr und mehr ausgebaut und gewährleistet werden können. Sollte die Gewährleistung verkommen, dann ist die Solidargemeinschaft verpflichtet x oder y zu tun damit die AGB wieder eingehalten wird.
Wenn wir da nicht aufpassen, dann könnte es gefährlich eng werden, um überhaupt noch etwas in dieser Richtung auf die Beine zu bringen.
Leider wurden in der Geschichte der Menschheit schon viele Rote Linien überschritten und somit bis zum heutigen Tag viele bereichernde Kulturen zerstört.
Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob der restlichen deutschen Kultur nun auch noch eine völlige Vernichtung droht, weil dies für die übrige Welt wahrscheinlich keinen Vorteil bringen würde, sondern ehr noch erheblich schaden könnte.
Unterm Strich ist es aber wirklich erschreckend wie viele Zukunftsvisionen und sogenannte Verschwörungen sich heute mehr und mehr zu realisieren beginnen und sogar noch weit übertroffen werden. Wer hätte vor nur 25 Jahren geglaubt, dass Bargeld für alle abgeschafft werden könnte, dass Menschen verchipt oder nicht einmal mehr verchipt zu werden brauchen um ihre Identität per Video oder andere Technologien zu bestimmen. Wer hätte geglaubt, dass „Russ und Gifte“ in der Luft, welche früher über Schornsteine verteilt wurden, heute bei Dieselautos, mit oder ohne Filter, dass dieser Feinstaub dann plötzlich eine Gefahr darstellen sollte? Auf der einen Seite werden falsch entsorgte Eierschalen im Restmüll von den Scheinstaatlichen Behörden verfolgt und auf der anderen Seite gibt es immer mehr Meldungen, wo schwere Straftaten nicht verfolgt werden können. Wer genauer hinsieht erkennt noch weit mehr…
Du schlägst die Kurve von dem Thema des Artikels zu „einem Beispiel“, in dem du sagst, dass Frauen sich nicht mehr auf die Straße trauen wegen Einwanderung, also wegen Flüchtlingen. Das ist die Argumentationsschiene, die man in den Medien in letzter Zeit leider zu oft findet: Von einem Thema ablenken und eine scheinbar logische Brücke zu einem anderen bauen, um die eigene Agenda, die eigene Meinung, zu bestärken. Ich finde das schade, weil ich dir in deinem Kommentar in einigen Punkten recht geben kann.
Über das Thema reden, darüber diskutieren, würde ich gut finden. Aber nicht, wenn jemand versucht, vom Thema abzulenken, nur um seine Meinung durchzudrücken.
Ja, Du hast recht! Das geht mir leider wohl öfter so, weil ich in Zusammenhänge denke und nicht: Was machen die „blöden“ in China oder Russland. Sondern, was läuft im Vergleich bei uns und wann kommt das angesprochene Thema dann zu uns auf welche Weise. Leider fällt mir auch auf, dass viele Themen entweder viel zu spät kommen und selten vorausschauend und entsprechend weitsichtig von mir empfunden werden. Es fehlt bei dem was vorgetragen wird gelegentlich der Biss. Ganz nach dem Motto: „Wir sind zwar auch alle fast völlig dagegen, aber wir zahlen trotzdem und gerne unseren Beitrag…
Das kann ok sein, wenn der Biss dann in Form unterschiedlicher Kommentare erfolgen darf… – Ich werde versuchen näher beim Thema zu bleiben.
Schon Altkanzler Schmidt hat mal in einem Interview gesagt: Was sich der Westen einbildet ein Land wie China vorzuschreiben wie sie ihr Land zu regieren haben.
Man sollte mal die Mainstreambrille absetzen und mal eine eigene Meinung haben.
Die Börse in China geht es schlecht, das schwächeln der chinesischen Wirtschaft geht weiter.
Welchen Einfluß Börsenkurse auf die Wirtschaft haben, sieht man an VW. Die Aktienkurse sind um 20%-30% eingebrochen. Jetzt kostet der Golf natürlich auch 20%-30% weniger oder??
Alle möglich erfassbaren Daten auf der Welt (z.B. Europa) werden gesammelt. Das ist illegal, es wird trotzdem gemacht und warum, weil man es kann. Die Genehmigung der Vorratsdatenspeicherung ist nur eine Legitimation der vorhandenen Tatsache.
Und jetzt versuchen die bösen Chinesen mit einem Spiel, ihrer Systemgegner im Zaum zu halten.
Was mich erschüttert ist, dass die Piraten jetzt auch in das Horn der Verblödung blasen.
Die Erkenntnis dass es offensichtlich auch um Gesinnung- Profile geht – kommt um viele Jahre hinterher. Die Behauptungen der mächtigen – die Datensammelei hätte lediglich den Zweck Terroristen und kriminellen das Handwerk zu legen – ist dem Grunde nach eine arglistige Täuschung.
Niemand hindert die zuständigen Organe daran Terror und Kriminalität zu bekämpfen. Was sowieso nur gezielt vorgenommen werden kann. Hierbei geht es um eine dermaßen kleine Minderheit – dass der Aufwand nicht gerechtfertigt wäre. Selbst unter Einbeziehung von Paris – Nein – es geht nicht nur um gefährliche kriminelle Subjekte.
Es geht insbesondere darum die Bevölkerung zu lenken und sich daran zu bereichern – mit Propagandamittel (z. B. Gleichschaltung der Medien u. Hartz 4 inkl. Behörden Terror) die Macht der etablierten Parteien und deren im Hintergrund befindlichen Kapitalisten (Freunde) zu festigen und auszubauen. Das hatten wir schon oft in der Vergangenheit – der Adel – Hitler – DDR. Alle hatten den selben Traum.
Die Nummer mit den Flüchtlingen ist symptomatisch dafür – dass die Zukunft von dem sog. Wirtschafts-Kapital langfristig geplant ist. Es geht bestimmt nicht um Nächstenliebe. Es geht um willige Arbeitskräfte – insbesondere deren Kinder sollen entsprechend herangezogen werden. Um Die zu bedienen – Die den Hals nicht vollkriegen (Größenwahn).
In der Zukunft werden vermutlich noch andere Planspielchen auf die Bevölkerung zukommen und am Ende gibt es genau das Gegenteil von dem, was ein demokratisches Deutschland und Europa benötigt. Nämlich soziale Gerechtigkeit und Friede.
Leider!
zu diesem Thema gibt es ein guten Roman von Marc Elsberg von 2014, und heißt „ZERO“…,