Am Samstag Vormittag war die Bühne der Münchner Sicherheitskonferenz den Außenministern, Präsidenten und Ministerpräsidenten vorbehalten. Die auch in München fortschreitende spürbare Abkühlung im Verhältnis der westlichen Staaten zu Russland erschwert die Erarbeitung und Durchsetzung von Lösungen.
In der Runde des Außenminister wies Frank-Walter Steinmeier darauf hin, dass die Million Menschen, die nach Deutschland flohen, uns die Krisen der Welt vor Augen führen. Damit verlor der Begriff der „internationalen Verantwortung“ in der Flüchtlingskrise das Abstrakte. Aber die Flüchtlingskrise dürfe keine Ausrede sein, sich abzuschotten. Doch auch wenn alles gelingt, was sich Deutschland und Europa hier vornimmt, bleibt am Ende eine Wahrheit: Dass die Menschen nicht einfach so Haus und Hof und ihre Heimat verlassen, sondern dass die meisten vor Gewalt und Terror fliehen. Bisher würde nur an den Symtomen, aber nicht an den Ursachen gearbeitet. Will man den Konflikt entschärfen, müsse man berücksichtigen, dass starke Staaten auch Verantwortung jenseits ihrer Grenzen tragen. Man dürfe sich nicht auf runde Tische beschränken, sondern müsse politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck ausüben – wie dies beim IS geschieht. Denn eine kluge Politik kenne die Realitäten, nehme sie aber nicht hin.
Auch Russlands Außenminister Lawrow nannte die Situation alles andere als zufriedenstellend. Gespräche brächten jedoch nichts, Vereinbarungen würden nicht umgesetzt, weil Abmachungen zugunsten nationale Interessen und zu Lasten des internationalen Gleichgewichts umgeschrieben würden. Als Beleg führte Lawrow das Minkser Abkommen und die Gespräche zu Syrien an. Die NATO und die EU weigerten sich, voll mit Russland zusammen zu arbeiten und würden stattdessen Waffen liefern. Da scheinen, so Lawrow, die alten Instinkte noch vorhanden zu sein.
Großbritanniens Außenminister Hammond widmete seine knappe Redezeit ausschließlich dem islamistischen Terror des sogenannten Islamischen Staats (auch IS, ISIS oder Daesh genannt). Allerdings sei Daesh nur eine von vielen Manifestationen des Extremismus, während es in Afrika und Asien andere extremistische Bedrohungen gebe. Als Instrument zur Bekämpfung nannte auch Hammond ein militärisches Vorgehen, die Unterbindung der Finanzströme und die Kommunikation. „Erfundenen“ Ideologien wie Kommunismus und Faschismus war leicht zu widersprechen, doch beim religiösen Extremismus handle es sich um eine Interpretation des Islam.
In der Präsidentenrunde gab es weithin Einigkeit zwischen Martin Schulz (Präsident des Europaparlaments), Polens Präsident Andrzej Duda, Littauens Präsidentin Dalia Grybauskaitė, Finnlands Präsident Sauli Niinistö und dem Präsident der Ukraine Petro Poroschenko. Für Schulz schrieb die EU eine Erfolgsgeschichte, weil nach dem Ende des 2. Weltkriegs Herausforderungen mit transnationalen Instrumenten bewältigt wurden. Mit den Problemen von heute – zu denen auch die Währungs- und Beschäftigungskrise gehört – hätten viele Europäer das Vertrauen verloren. Doch auch im 21. Jahrhindert seien nationalen Lösungen nicht wichtiger als transnationale Lösungen.
Polens Präsident vermied es, Russland direkt zu kritisieren oder auf das gestörte Verhältnis zur EU einzugehen. Doch es sei für Polen eine wichtige Aufgabe, die NATO an der „östlichen Flanke des Bündnisses“ zu stärken. Das Gebiet der NATO endete bis 1989 an der deutschen Grenze. Danach habe sich Europa verändert und der nächste Schritt sollte es sein, Stützpunkte in Polen und den baltischen Staaten aufzubauen.
Littauens Präsidentin Grybauskaitė nahm den zugespielten NATO-Ball nicht an, fand aber deutliche Worte für Moskaus Versuch, die Schuldfrage für die Toten in Syrien auf andere abzuwälzen und nannte Russlands Verstrickungen in den Krieg in der Ukraine und in Syrien „Aggression“. Auch aus Finnland kamen deutliche Worte zu Russland, das von der Arktis bis nach Syrien die Dinge zum schlechteren wendet. Poroschenko, Präsident eines Landes das noch nicht EU-Mitglied ist, warnte vor einem „alternativen Europa“ mit alternativen Werten. Dies führe zu Isolationismus, religiösem Fanatismus und Homophobie. Für Poroschenko gewinnt Europa, wenn es geeint ist und für seine Werte kämpft.
In der Runde der Premierminister offenbarten Frankreichs Manuel Valls und Russlands Dmitri Medwedew unterschiedliche Blickwinkel auf die Welt. Frankreich sieht sich in einer neue Epoche des Hyperterrorismus. Dieser käme aus einem Staat der kein Staat sei. Frankreich befinde sich in einem Krieg, weil der Terror Frankreich bekriegt. Valls sprach von kommenden Anschlägen, weil die Ideologie viele fasziniert und mitten in der Gesellschaft angekommen sei. Tausende von jungen Menschen hätten sich durch diese neue Ideologie radikalisiert. Frankreich hat bei Anschlägen einen großen Preis bezahlt – doch seien auch in anderen Länder, in Russland und vor allem auch in arabisch-muslimischen Staaten Opfer zu beklagen. Der IS kämpfe einen asymmetrischen Krieg der keine Staaten, keine Grenzen oder Regeln kennt. Ein wichtiges Ziel sei es, gegen die Radikalisierung in der Gesellschaft vorzugehen, auch wenn es schwierig sei zu versuchen, den ideologischen Einfluss zu vermindern.
Russland Ministerpräsident Medwedew erklärte die Zeit, die seit dem Fall es eisernen Vorhangs vergangen sei, als kurz, wenn man in geschichtlichen Größenordnungen denkt. Doch oft orientiert man sich an der Lebenszeit eines Menschen. Es gäbe heute kein einheitliches großes Europa, dafür ein langsames Wachstum und Konflikte, die sich verstärken. Es gäbe den Migrationskollaps und einen Bürgerkrieg in der Ukraine. Es gäbe einen faktisch abgerissenen Dialog mit Russland, den Verlust der Rüstungskontrolle und geplatzte Partnerinitiativen. Der NATO warf er Härte vor. Medwedew fragt sich, ob wir in 2016 oder 1962 leben! Doch heute seien Die Probleme seien andere als vor 40 Jahren: Wachstum, Bekämpfung von Armut, Terrorismus, regionale Konflikte in der Ukraine und absehbar in Moldau. Er nannte die Sanktionen gegen Russland willkürlich und unter Ignorieren von internationalen Regeln verhängt. Lobende Worte fand er für Frankreich, da der Dialog mit Paris nie abriss. Die Verhandlungen in Syrien müssen ohne Vorbedingungen mit der Regierung der Opposition stattfinden. ISIS hätte einen Tierinstinkt zu töten. Es sei durch den “arabischen Frühling” keine „moderne Demokratie“ entstanden, stattdessen dringen einige tausend Extremisten nach Europa ein. Dies führe zum faktischen Zerfall der Schengen-Zone. Die Schuld für den Krieg in Syrien weist Medwedew dem Westen zu, da sich Syrien ohne Einmischung von außen selbst hätte weiter entwickeln können.
Nach fast vier Stunden Reden und Diskussionen blieb beim Zuhörer der schale Geschmack des Wiedergekauten übrig. Polen will mehr NATO gegen Russland, aber seine demokratischen Institutionen ohne Kritik aus der EU denen Moskaus ähnlicher machen. Frankreich betrauert seine Toten ohne zu hinterfragen, warum der Tod als Selbstmordattentäter vielen jungen Menschen erstrebsamer erscheint als ein Leben in den Banlieues der Vorstädte. Deutschland versucht den aufgeregten Haufen, der einmal die EU bildete, zusammenzuhalten und die „Rette sich wer kann!“ Rufe mit einem zuversichtlichen „Wir schaffen das!“ zu übertönen. Am realistischsten scheinen die Vorstellungen in England zu sein, das Europa – nicht nur durch die Insellage bedingt – aus einiger Entfernung begegnet. Sollten sich die Prophezeiungen Valls bestätigen, können wir bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 die Toten des letzten Jahres zählen. Es mag zynisch klingen, doch dann wäre der Augenblick gekommen, zu überlegen, wessen Strategie für Europa wohl die bessere gewesen wäre.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.