Ein Gastbeitrag von Stephan Flindt
Die Pandemie hat viele Schwächen in Deutschland zutage gefördert. Das Netz ist nicht ausreichend, die Arbeitgeber nicht flexibel genug, die Maßnahmen sind nicht stringent und konsequent genug – oder gar widersprüchlich.
In der Pandemie wurden viele Maßnahmen angestoßen, wieder umgeworfen und verändert, die unser Leben ganz massiv beeinträchtigen. Homeoffice nimmt einen größeren Stellenwert ein, medizinisches Personal ist an der Grenze der Belastbarkeit, Menschen sterben allein ohne Zuspruch und Trost. Unsere Freizeit ist reglementiert, Freunde und Familien dürfen nicht getroffen werden, Geschäfte müssen schließen. Die Gastronomie musste schließen, … you name it.
Mehr oder weniger gerne wurden die meisten Einschnitte in unser privates Leben akzeptiert, geht es doch darum, die Pandemie zu stoppen. Niemand möchte an SARS-CoV2 erkranken oder gar sterben. Der beste Schutz dagegen war und ist es, die Isolation zu tolerieren.
Zumindest war das so, bis die Impfstoffe verfügbar wurden.
Das Handling des Impfens ist ein Desaster. Zweimal habe ich meine Mutter ins Impfzentrum Gießen begleitet und will davon berichten. Im Januar wurde meine Mutter (91) per Post darüber informiert, dass sie geimpft werden kann.
Am 07.02. hatten wir den 1. Termin. Wie läuft das Impfen ab? Zunächst wird am Eingang der QR-Code des Impflings kontrolliert und die Personalien der Begleitperson werden (handschriftlich) aufgenommen. Danach landet man in einem Wartebereich an der Anmeldung. Es standen 7 Kabinen bereit, nur 2-3 waren besetzt. In der Anmeldung werden alle Dokumente des Impflings kontrolliert und er bekommt einen Anamnesebogen in die Hand gedrückt – zum Ausfüllen im nächsten Wartebereich. Nächster Schritt ist das Arztgespräch. Dort wird gefragt, ob man Fragen habe, wird aufgeklärt, dass es Nebenwirkungen geben kann, etc. (substantielles ist jedenfalls nicht dabei). Erst dann gelangt der Impfling in die Impfstraßen. Davon gibt es in Gießen 7 mit je 3 Kabinen.
Da die Anmeldung und die Arztgespräche so lange dauern, kommen einem die “Impfer” schon entgegengerannt, um einen in Empfang zu nehmen. Nach der Impfung 15 Minuten warten, dann zur Ausgangsregistratur. Dort werden wieder Dokumente gescannt und ein provisorisches Impfblatt zur Einlage in den Impfausweis. Tägliche Kapazität zu dieser Zeit: 500 Impfungen. 500!
Bei der 2. Impfung exakt das gleiche Prozedere, diesmal waren alle 7 Anmeldekabinen in Betrieb und alle 7 Arztplätze besetzt. Die Impfer haben mehr zu tun, sind aber noch lange nicht ausgelastet. Kapazität jetzt 1500 Impfungen. Fazit: Wir impfen nicht, wir verwalten Impfungen!
Hier meine Impfstrategie (als Laie) mit Zahlenwerk. In Deutschland werden Medikamente zugelassen, nachdem sie ausgiebig klinisch getestet wurden. Bei allen Impfstoffen waren die Nebenwirkungen vorhanden, aber unkritisch. Das ganze Vorgehen im Impfzentrum ist also über bürokratisiert. Ein Mensch, der sich impfen lassen will, könnte – beispielsweise vom Einwohnermeldeamt – eine Einladung zu Impfung bekommen, zusammen mit den entsprechenden Aufklärungsunterlagen. Werden die Unterlagen dann unterschrieben (habe es gelesen und verstanden etc.) zurückgesendet, bekommt man einen QR-Code und kann sich damit impfen lassen. Personen, die näheres erfahren wollen – oder müssen, wie z.B. manche Risikopatienten – lassen sich vom eigenen Hausarzt beraten, die Praxen sind aktuell nicht wirklich überfüllt.
Hat man den QR-Code, reicht es im Impfzentrum diesen vorzuweisen und sich ohne Umwege direkt impfen zu lassen.
Rechnen wir dann mal die Kapazität des Impfzentrums Gießen neu. In 5 Minuten kann ein Impfer die 3 Kabinen seiner Impfstraße einmal durchlaufen, macht 3 Impfungen in 5 Minuten, 36 pro Stunde. Bei 2 Schichten und 7 Impfstraßen kommen da – ohne Pausen – 4032 Impfungen zustande. Würden die 7 Ärzte, die jetzt noch Beratungen durchführen, ebenfalls impfen, wären wir bei 8000 Impfungen pro Tag.
Warum erbost es mich so, dass das nicht schneller geht?
Weil durch diese Trödelei jeden Tag mehr Menschen sterben und viele erkranken. Das Gesundheitsministerium weist täglich die Anzahl geimpfter Menschen aus, das sind, Stand heute, etwa 5. Mio. mit Erstimpfung und 2,6 Mio. die durchgeimpft sind. Das sind 3,3 % der Bevölkerung. Herdenimmunität Fehlanzeige.
Kommen wir zu den ‘Impfprivilegien’.
Bei diesem Begriff kommt mir die Galle hoch. Ein geimpfter Mensch bekommt nach der Impfung ein halbwegs normales Leben zurück, das vor der Pandemie für alle Menschen selbstverständlich war. Diesen Normalzustand wiederzuerlangen, ist also kein Privileg!
Außerdem werden wieder Gräben und Neiddebatten befeuert, die wir uns gar nicht leisten können. Statt diese Neiddebatte zu führen, sollten wir lieber Gas geben beim Impfen, um für alle den Normalzustand möglichst schnell zurück zu erreichen. Das Getrödel kostet uns ein riesiges Vermögen, weil die Einschränkungen für Wirtschaft und Bevölkerung gravierende Einschnitte darstellen. In anderen Ländern sind die Prozentzahlen der Geimpften deutlich höher. In Großbritannien, Stand 23.02. Mehr als 25 %, in Israel 55 % in Deutschland Stand heute 3,3 %. Die USA, unter Trump Schlusslicht bei der Corona-Bekämpfung, will unter ihrem neuen Präsidenten bis Ende Mai 2021 (!) jeden erwachsenen Amerikaner, der es möchte, geimpft haben.
Und um es mal klar zu sagen, natürlich werden Gastronomen, Fluggesellschaften etc. die Pforten vor allem für geimpfte Gäste öffnen. Die oberste Priorität muss also auch politisch sein, schnellstmöglich die Impfungen abzuschließen. Wir Impfen jetzt seit 2 Monaten und haben 3,3 % geimpft. In diesem Tempo bedeutet das weitere 66 Monate bis wir durch sind. Selbst wenn man annimmt, dass wie in Gießen jetzt schneller geimpft wird (Faktor 3 gegenüber Februar) würde es noch immer 22 Monate dauern bis alle geimpft sind. Bis dahin wären tausende Betriebe pleite, das medizinische Personal am Ende, zig Tausende gestorben, Hunderttausende erkrankt.
Aber wir haben die Impfung erfolgreich verwaltet, auch in Details – beim Ausgang aus dem Impfzentrum in Gießen gibt es eine Stahltür (Artikelbild), an die die Geimpften und Begleiter ihre Aufkleber (vermutlich genervt) drankleben. Die Behörden haben auch an schicke Aufkleber gedacht, gute Verwaltung ist schließlich die Kernkompetenz in Deutschland!
Sic transit gloria Mundi
Dieser Artikel erschien in veränderter Form am 7.3. auf
der Website der Piratenpartei Wetterau