
Landesparteitag am 27.11.2021 in Reutlingen

Eine Kolumne von Ullrich Slusarczyk
Vorstand in der Piratenpartei zu sein, das ist ein zweischneidiges Schwert. Denn die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist riesig.
Und zwar auf beiden Seiten. Also bei denen, die sich wählen lassen, aber auch bei der Basis und Ihrer Anspruchshaltung.
Die Kandidaten
Da die Piratenpartei alles andere als groß ist, ist es nicht wirklich schwer, in ein Amt gewählt zu werden. Viele sind froh, wenn sich überhaupt jemand meldet. Getreu dem Motto, dann muss ich nichts tun. Und schon da beginnt das Problem. Denn viele Menschen, die sich bereit erklären, etwas für die Partei zu tun, haben absolut keine Erfahrung und auch keine Vorstellung davon, wie viel Arbeit das sein kann. Dazu kommen dann eventuell noch eigene Ansprüche, die dann plötzlich platzen, weil sie so gar nicht erfüllbar sind. Und selbst wenn alles passt, kommt der Faktor Mensch zum Tragen. Parteimitglieder, die einem unverblümt ins Gesicht sagen, dass man Vorständen schon grundsätzlich nicht vertraut und man sich von „denen da oben“ nichts sagen lässt oder sehr schlechte Erfahrungen haben mit eben jenen. Vorstandsmitglieder, die einen schlicht weg hängen lassen, z. B. mit Nichtstun. Zu alledem kommt dann noch die eigene Unerfahrenheit, die einen auch nicht immer so souverän aussehen lässt, wie man das gerne hätte. Nimmt man all das, dann ist die erste Legislaturperiode nicht selten auch die letzte. Denn Fehler in der Piratenpartei sind absolut unverzeihlich. Und die Piratenpartei vergisst nie! Dazu kommt, dass gerne frische Leute gewählt werden, möglichst jung, am besten weiblich, oder einer Minderheit angehörend. Erfahrung zählt eher nicht. Wenn Neuwahlen anstehen, müssen die alten Vorstände einen Rechenschaftsbericht abgeben. Dabei ist es interessant, zu beobachten, was das Auditorium macht. Desinteresse ist dabei die wohl häufigste Bekundung. Allenfalls die, die sowieso alles, was das betreffende Mitglied gemacht hat, schlecht finden, sind jetzt aktiv. Die Möglichkeiten, an einem Vorstandsamt zu scheitern, sind groß. Aber der wohl häufigste Grund ist das Desinteresse der anderen Vorstände und Mitglieder. Wenn zu einem Landesparteitag/Mitgliederversammlung von ca. 420 Mitgliedern mal gerade 30 erscheinen. Und wenn von den 30 dann lediglich der Landesvorstand erscheint, aber nur ein einziger Vorstand von einer untergeordneten Gliederung, dann sagt das viel aus. Alleine in Niedersachsen gibt es zurzeit 10 Gliederungen. Wenn alle diese Vorstände nur 3 Mitglieder haben, sind das alleine schon 30 Menschen, die eigentlich die Pflicht gehabt hätten, zum Parteitag/Mitgliederversammlung zu erscheinen.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen schon hier gescheitert sind. Es waren sicher einige. Bezeichnend ist dabei, dass viele ehemalige Vorstände sich danach entweder völlig zurückziehen und mehr oder weniger inaktiv werden, oder sogar die Partei verlassen. Nicht selten in Richtung einer anderen Partei.
Die Basis
Mit der Basis ist das so eine Sache. In der Theorie sind das alle, die nicht im Vorstand sind. In der Praxis sind das einige wenige aktive. Und hier wird es schwierig. Denn von den meisten hört und liest man schlichtweg nichts. Und die wenigen Aktiven müssten ja auch die sein, die den Vorstand gewählt haben. Dem scheint aber eher nicht so zu sein. Zumindest wenn man sich z. B. bei Telegram, im Forum oder Mattermost umsieht. Danach scheinen gewählte Vorstände fast nur illegitime Dinge zu tun, die entweder der Satzung oder dem Programm widersprechen. Dazu kommt ein nachgerade absurdes Verständnis von Transparenz. Natürlich sollten Entscheidungen eines Vorstandes transparent sein. Aber muss wirklich jedes Wort, das geschrieben oder gesprochen wurde zu einem Thema, für jeden zugänglich sein. Hier existiert in der PP eine Anspruchshaltung, die nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Erfüllt man eine dieser Anforderungen aus Sicht vieler nicht, dann ist dies ein Vorstand, der über die Köpfe der Mitglieder entscheidet. Diese tiefverwurzelte Abneigung gegen die sogenannte Obrigkeit ist weitverbreitet in der PP. Und für viele Aktive gehört der jeweilige Vorstand ebenfalls zur Obrigkeit.
Besonders schwierig ist es, Unterstützung zu finden, egal wofür. Sei dies die Präsenz auf einer Demo oder das Aufbauen und anschließende Betreuen eines Infostandes. Erwartet wird, dass der Vorstand das regelt. Wenn dann mal ein Vorstand mehr Zeit hat, aus welchen Gründen auch immer, dann steigen die Erwartungen entweder ins Absurde oder die eigene Beteiligung sinkt gegen null.
Der Anspruch bzw. die Erwartung
Die Basis erwartet eine Leistung, die mit einer bezahlten Vollzeitkraft inklusive unbezahlten Überstunden vergleichbar ist. Hoch motiviert, informiert und Tag und Nacht erreichbar.
Darüber hinaus sollte man sowohl die Satzung, das Wahlprogramm, das Grundsatzprogramm und selbstverständlich auch noch die aktuelle Tagespolitik bestens kennen.
Und natürlich muss man auch ein sehr dickes Fell haben. Denn die Basis geizt nicht mit Beschimpfungen, Anschuldigungen und Unterstellungen, ist aber selber hochempfindlich. Sie legt jedes Wort auf die Goldwaage, das man je gesagt oder geschrieben hat. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem großen Boulevardverlag ist da schon das ein oder andere Mal zu erkennen.
Die Wirklichkeit
Tatsächlich aber wird es jemand, der im Ehrenamt für die Partei arbeitet, und dabei meistens auch noch ziemlich alleine ist, einen Vollzeitjob hat, und meistens auch eine Familie, darüber hinaus sehr häufig keine oder nur wenig Erfahrung und mangels Dokumentation auch nur wenig Möglichkeiten hat, sich zu informieren, um dann von dem Umstand überrumpelt zu werden, wie viel Arbeit es eigentlich ist und wie wenig politisch man tatsächlich arbeitet.
Wenn die Person dann eventuell noch eigene Ziele und Vorstellungen hat, und diese auch erreichen will, ist ein Scheitern schon fast vorherbestimmt.
Ich war Gewerkschafter, Betriebsrat, Selbstständiger mit Personal und EDV-Leiter in großen IT-Abteilungen mit Personalverantwortung.
Aber nirgendwo war die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so groß wie in der PP.
Aber am schlimmsten finde ich, wie sehr engagierte und motivierte Menschen verschlissen werden. Wie beinah jede Bemühung und jeder Versuch, Professionalität in den Parteialltag zu bringen, an Grabenkämpfen/Machtkämpfen scheitert. Menschen, die Angst haben, dass sie Ihre Deutungshoheit verlieren, bekämpfen alles, von dem sie glauben, dass es sie einschränken könnte.
Dazu kommt die völlige Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, oder im Zweifel sogar mal an sich selbst zu üben.
Es wird Zeit, dass die PP der Pubertät entwächst und endlich erwachsen wird und das nicht nur, was die Ansprüche an ihre Vorstände anbetrifft.
Ullrich Slusarczyk
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.
Das! Wort für Wort.