Am Bundesparteitag muss LQFB seine Feuertaufe bestehen. Simon Weiss, einer der Verfechter von LQFB, spricht über Einsatzmöglichkeiten und gibt einen Ausblick auf Chemnitz.
Flaschenpost: Simon, ächzt der LQFB-Server unter dem Ansturm der Anträge?
Simon Weiss: Der Server ist nicht direkt unterfordert, kommt aber problemlos klar und hat auch noch Raum nach oben, was die Auslastung angeht. Genaue Statistiken dazu kann man sich hier ansehen.
Allgemein kann man sagen, dass das System sowohl in technischer Hinsicht als auch aus Benutzersicht ganz gut mit den jetzt über 3000 Benutzern und der entsprechenden Aktivität umgeht, wenn man bedenkt, dass die Bundesinstanz damit fast zehnmal so groß ist wie die zuvor größte Instanz im Landesverband Berlin. Dabei zeigt sich jetzt schon, dass hier z.B. die Möglichkeit der Delegationsvergabe eine noch wesentlichere Rolle spielen wird, da es keinem Einzelnen mehr möglich ist, die Aktivität aller Piraten im System vollständig zu erfassen. Es wird auf jeden Fall nötig sein, weitere Erfahrungen zu sammeln.
Flaschenpost: Wie wird entschieden welcher Punkt in Chemnitz behandelt wird?
Simon Weiss: Idealerweise würde man natürlich alle Anträge an den Parteitag behandeln. In Anbetracht der Menge an Programmanträgen, die bereits an den letzten Bundesparteitag gestellt wurden und dort nicht behandelt werden konnten, wird das aber nur für einen Teil davon möglich sein. Die Reihenfolge, in der Anträge behandelt werden, wird also eine Rolle spielen.
Die Entscheidung darüber fällt der Parteitag selbst, indem er sich eine Tagesordnung gibt. Man sollte sich natürlich vorher darüber Gedanken machen, wie eine solche Reihenfolge sinnvollerweise aussehen könnte, so dass der Parteitag einen konkreten Vorschlag abstimmen kann. Wenn man möchte, dass ein solcher Vorschlag nicht einfach von oben vorgegeben wird, sondern eine direkte demokratische Legitimation hat – und davon würde ich in einer basisdemokratischen Partei wie unserer ausgehen – gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Eine Erarbeitung auf dem Parteitag selbst (z.B. nach dem Alex-Müller-Verfahren), was allerdings mit einem gewissen organisatorischen und zeitlichen Aufwand verbunden ist, oder die Anwendung eines geeigneten Verfahrens bereits im Vorfeld.
Für den Bundesparteitag in Bingen wurde letzteres mit einer allgemeinen LimeSurvey-Umfrage versucht, allerdings hat der Parteitag sich gegen eine Verwendung ihrer Ergebnisse entschieden. Stattdessen wurden dort nach Abschluss der Personenwahlen, während der noch einige explizit vorgezogene Anträge behandelt wurden, Anträge in der Reihenfolge ihrer Unterstützung in der Antragsfabrik behandelt. Für Chemnitz würde es natürlich nahe liegen, etwas vergleichbares mit LiquidFeedback an Stelle der Antragsfabrik zu tun und dem Parteitag das Ergebnis vorzuschlagen. Einen Vorschlag von mir, wie man das tun könnte, findet man hier.
Flaschenpost: Wurde durch LiquidFeedback die Antragsfabrik obsolet?
Simon Weiss: Eine der Funktionen von LiquidFeedback (allerdings bei weitem nicht die einzige) ist die, die in der Vorbereitung des letzten Bundesparteitags von der Antragsfabrik umgesetzt wurde: Für Antragsteller an den Bundesparteitag besteht die Möglichkeit, zu ihren Anträgen ein Meinungsbild einzuholen und Feedback zu sammeln, um diese Anträge weiterzuentwickeln. Außerdem können sowohl die Anträge als auch die zugehörigen Meinungsbilder allgemein eingesehen werden, um sich in der Vorbereitung auf den Parteitag zu orientieren. Dabei hat LiquidFeedback eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Antragsfabrik. Neben der komfortableren Bedienbarkeit und Features wie dem quantifizierten Feedback über Anregungen, der Präferenzwahl und der Möglichkeit der Stimmendelegation ist dabei auch zu nennen, dass in LF sichergestellt ist, dass jeder Teilnehmer tatsächlich Pirat ist und nur einmal teilnimmt, wodurch die Meinungsbilder aussagekräftiger werden.
Tatsächlich ist die Beteiligung in LiquidFeedback bereits jetzt um ein Vielfaches größer als sie es in der Antragsfabrik zur Vorbereitung des letzten Parteitags war. Zwar wurde auch für den kommenden Parteitag in Chemnitz eine Antragsfabrik eingerichtet, diese wird aber kaum benutzt. Insofern lässt sich wohl sagen, dass LiquidFeedback in der Praxis die Antragsfabrik bereits abgelöst hat.
Flaschenpost: Wie wird es inhaltlich und technisch mit LQFB weiter gehen?
Simon Weiss: Technisch steht LiquidFeedback sicher noch nicht am Ende seiner Entwicklung. Allein in der Benutzeroberfläche ist einiges an Verbesserung denkbar, insbesondere was die Bedienung und die Aufbereitung von Informationen angeht. Auch die dahinter stehende Logik ist sicher noch an einigen Stellen ausbaufähig. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Software von einer sehr kleinen Gruppe von Menschen entwickelt wurde und zur Zeit zum ersten Mal in einer Organisation dieser Größenordnung verwendet wird. Es ist zu hoffen, dass LF sich als echtes Open-Source-Projekt weiterentwickelt und dabei insbesondere konstruktiven Input von einem größeren Personenkreis erfährt.
Was die inhaltlichen und politischen Aussichten des Einsatzes von LiquidFeedback in der Piratenpartei angeht, lohnt es sich meiner Meinung nach, aus der Begründung des Antrags zur Einführung von LiquidFeedback an den Bundesparteitag zu zitieren:
Um weiterhin basisdemokratisch Entscheidungen treffen zu können, benötigen wir eine Alternativlösung zu den bisher bei Parteien üblichen Vertreterversammlungen. Ziel ist es, dauerhaft auf ein Delegiertensystem zur Entscheidungsfindung innerhalb der Partei zu verzichten. Die Einführung von LiquidFeedback für qualifizierte Meinungsbilder der gesamten Basis soll den ersten Schritt darstellen, die Idee der Basisdemokratie in der Piratenpartei zu erhalten und eine „Vergrünung“ zu verhindern.
Diese Ansprüche mögen übertrieben erscheinen, zumal wenn man den notwendigerweise unverbindlichen Charakter von LiquidFeedback bedenkt; ich denke aber, dass allein schon durch die Möglichkeit einer expliziten Meinungsartikulation von Seiten der Mitglieder unabhängig von rechtlichen Verbindlichkeiten ein basisdemokratisches Mittel geschaffen ist, dass sich in unseren Strukturen bemerkbar machen wird.
Flaschenpost: Wie stellst du Dir die Gesellschaft in 30 Jahren vor?
Simon Weiss: Ich denke, dass unsere Gesellschaft eine Revolution durchläuft, die aus neuen Möglichkeiten der Weitergabe und Verarbeitung von Informationen hervorgeht und vergleichbar mit der industriellen Revolution aber (in gewissem Sinne noch viel grundlegender als diese) nicht nur auf den technischen Bereich beschränkt ist, sondern auch grundlegende soziale Änderungen mit sich bringt. Ich denke auch, dass sich diese Entwicklung gerade einmal in ihren Anfängen befindet.
Die Vorhersage, wohin dies unsere Gesellschaft in 30 Jahren bringen wird, fällt mir dabei nicht leicht. Meine Hoffnung ist aber die, dass die Gesellschaft diesen Änderungen offen und vor allem bewusst begegnen wird. Es gibt viele Normen und gesellschaftliche Umstände, über die wir in Anbetracht neuer Möglichkeiten erneut reflektieren müssen. Darin, einen solchen Prozess an vielen Stellen mit anzustoßen und mit neuen Ideen weiter zu bringen, sehe ich auch die wichtigste Aufgabe der Piraten.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.