Der Rorschachtest dient dem Psychoanalytiker, die Phantasie eines Patienten zu interpretieren. Daran musste ich denken, als mir auf dem Flohmarkt eine alte Tuschezeichnung des Berliner Reichtagsgebäudes angeboten wurde. Zuhause angekommen stellte ich das Bild auf den Tisch und betrachtete es. Kreisförmig wuchsen die Konzernzentralen der großen deutschen Unternehmen aus dem Boden: das Deutsche-Bank-Hochhaus in Frankfurt, das Friedrich-Engelhorn-Hochhaus der BASF in Ludwigshafen, die BMW-Konzernzentrale Vierzylinder in München, die Springer-Zentrale in Berlins Rudi-Dutschke-Straße, die Bertelsmann-Konzernzentrale in Gütersloh, die Hochhäuser großer Anwaltskanzleien, einige Versicherungsgesellschaften und die großen vier Energieversorger überragten das Reichstagsgebäude mit seinen 75 Metern Höhe um ein Vielfaches.
Doch eigentlich war dies ein Trugbild, denn das Reichstagsgebäude selbst ist schon lange die Zentrale der Deutschland AG. Seine verschiedenen Abteilungen tun nichts anderes als Wirtschaftsinteressen zu vertreten. Das Büro für Soziales gebiert billigste Arbeitskräfte, die Fachabteilung für Verteidigung hält die Handelswege frei. Das Referat für Äußeres transportiert Handelsvertreter zu den abgelegensten Staaten während die Hauptabteilung für Entwicklung Strategien gegen Regierungen entwirft, die dem Markt nicht alles überlassen. Die Finanzstelle verteilt Gelder von unten in die Konzerne. Und der Chef für interne Kommunikation erklärt uns, dass das alles so sein muss, damit der Terrorist nicht gewinnt. In dieser Wirtschaftswelt ist kein Platz für soziale Brennpunkte, überfüllte Wartezimmer beim Arzt, Menschen die Schicht arbeiten, Arbeitnehmer, die mehrmals pro Woche in der Abendschule sitzen. Kein Platz für soziale Milieus, Kleinunternehmer, die dezentrale Lösungen für kleinteilige Probleme entwickeln. Es gibt nur BWL-Absolventen, die mit Leichtigkeit den Schreibtisch bei der Politik aufgeben und zur Wirtschaft hinüber wechseln – und zurück. Es ist kein Seitenwechsel, es ist nur ein Wechsel von hier nach dort! Die Aufgabe bleibt die selbe: die Gewinne maximieren. Der Minister stößt dafür die Tür auf und läuft im Blitzlichtgewitter als erster über die Schwelle. Im Tross dahinter folgen die Wirtschaftsvertreter, die Taschen voller Geld für die anstehenden Verträge.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.