Der programmatische Bundesparteitag (BPT) in Chemnitz wird sehr unterschiedlich bewertet. Boris Turovskiy, Pirat aus München, spricht über seine Eindrücke.
Boris, wie viele Anträge hast du zum BPT eingebracht?
Ich habe neben zwei redaktionellen Anträgen („Neugliederung des Parteiprogramms“, welches die post-Bingen Gliederung verbessert und schnell angenommen wurde, sowie „Redaktionelle Überarbeitung des Parteiprogramms“, statt dem aber der Antrag zur Redaktionskommission durchging) drei inhaltliche Anträge eingereicht, die für das Grundsatzprogramm vorgesehen waren – „Gerechte und zeitgemäße Ausbildungsförderung“, „Jugendschutz“ und „Rechtssicherheit im Internet“. Von diesen Anträgen wurden „Ausbildungsförderung“ und „Rechtssicherheit“ nach intensiver Debatte als Positionspapiere verabschiedet. Die Zustimmung hat mich sehr gefreut, und zumindest beim Antrag zur Reform der Ausbildungsförderung in Richtung einkommensunabhängiger Modelle bin ich zuversichtlich, dass eine bessere und präzisere Formulierung auf dem nächsten Parteitag auch für das Grundsatzprogramm angenommen wird.
Dass der Antrag zum Jugendschutz nicht behandelt wurde, war sehr bitter, da es nur eine halbe Stunde gebraucht hätte, bis er drangekommen wäre.
Ich habe den Antrag aus dem Positionspapier der JuPis, der Überarbeitung durch Ben Stöcker und meinem eigenen Antrag für Bingen zusammengestellt und bin sicher, dass er die nötige Mehrheit erreicht hätte. Im Nachhinein betrachtet wäre es sinnvoll gewesen, den Antrag in die Gruppe „Internet und Medien“ zu verschieben, da er auch thematisch dort deutlich besser untergebracht wäre. Ich werde den Antrag sicherlich auch beim nächsten BPT einreichen.
Ich habe für diesen Parteitag auf eine modulare Einreichung der Anträge verzichtet, um das Antragsbuch nicht übermäßig zu belasten. In Anbetracht der Antragsflut hätte es aber kaum einen Unterschied gemacht, weswegen eine Einreichung in Modulen wohl sinnvoller wäre. Allerdings bereitet es mir Kopfschmerzen, wenn Module teilweise als Grundsatzanträge, teilweise als Positionspapiere angenommen werden;
zumindest bei modularen Anträgen würde eine klare Ja/Nein-Abstimmung meines Erachtens richtiger sein – sollte ein Modul die 2/3-Mehrheit nur
knapp verfehlen, ist es ein klares Signal an den Antragssteller, dass eine überarbeitete Version davon durchaus Chancen hat.
Aus vielen Grundsatzanträgen wurden mangels ausreichender Akzeptanz Positionspapiere. War das eine „Retten was geht“-Strategie?
Ich fand es äußerst interessant, dass nach all den hitzigen Debatten (und der klaren Ablehnung) der Programmtrennungsanträge wir quasi von
selbst auf diesen Modus gekommen sind. Meines Erachtens liegt zumindest ein Teil des Problems darin begründet, dass wir eigentlich kein Konzept haben, was ein Grundsatzprogramm, Wahlprogramm und Positionspapier sein soll. Es ist kein Zufall, dass das Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2009 sich kaum von dem Grundsatzprogramm zu diesem Zeitpunkt unterscheidet (und nach meiner Ansicht zu abstrakt für ein Wahlprogramm ist, genauso wie unser Grundsatzprogramm zu konkret für ein Grundsatzprogramm ist). Bei Positionspapieren ist eine Interpretation des Begriffs noch schwieriger, da wir bis Chemnitz keine Positionspapiere auf Bundesebene hatten. Ich sehe drei Arten von Anträgen, die als Grundsatzprogramm eingereicht und als Positionspapier verabschiedet wurden:
- Anträge, die als zu unausgereift angesehen wurden (in Perspektive – Vorlagen für Grundsatzprogrammanträge),
- Anträge, die als zu konkret angesehen wurden (Vorlage für Wahlprogrammanträge),
- Anträge, die Grundsatzwert haben, aber nicht die nötige Zustimmung erhielten (quasi „erweitertes Grundsatzprogramm“ im Programmtrennungskonzept).
Diese letzte Gruppe ist es auch, auf die am ehesten der Verdacht fällt, sie wären eine „Retten was geht“-Strategie. Da ich aber die Programmtrennung stark befürworte, würde ich es nicht negativ besetzen. Die Tatsache, dass strukturell komplett verschiedene Anträge in den Topf „Positionspapier“ geworfen werden, ist aber sicherlich für Piraten wie Außenstehende sehr verwirrend und muss korrigiert werden. Für die Zukunft wünsche ich mir deshalb, dass wir bereits im Vorfeld eines Parteitags klar definieren, welche Antragsarten es gibt und wie diese
behandelt werden. Schließlich gibt es auch eine Definition des Positionspapiers, welche keiner der drei oben genannten Gruppen entspricht: eine detaillierte und begründete Auseinandersetzung zu einem bestimmten Thema, das von unserem Grundsatzprogramm abgedeckt, aber nicht ins Detail behandelt ist. Solche Art von Positionspapieren ist – als eigenständiges Strukturelement – sehr wichtig, leider würden sie jetzt unter all den anderen Typen untergehen.
Eines muss ich allerdings noch zu dem Thema loswerden: bedingt durch den unklaren Status haben viele Stellen (Blogger, Medien, und vor allem die offiziellen Pressemitteilungen der Bundespartei!) gar keine klare Trennung zwischen angenommenen Grundsatzprogrammanträgen und Positionspapieren in der Berichterstattung gemacht. Wenn ich lese, dass sich Piraten „klar für die Beschränkung der Urheberrechtsdauer auf 10 Jahre“ oder „für den Atomausstieg“ ausgesprochen haben, kann ich nur mit dem Kopf schütteln, da es sich dabei um Anträge handelt, die in einer Kampfabstimmung an der nötigen 2/3-Mehrheit scheiterten und keinesfalls in einer Reihe mit den (zum Teil mit 90% Zustimmung) angenommenen Grundsatzanträgen stehen dürften.
Was würde uns helfen den kommenden BPT2011 zu einem Erfolg zu machen?
Zwar stehen Personenwahlen an, eine Wiederholung von Bingen kann ich mir aber nicht vorstellen, sogar wenn wir von der organisatorischen Seite gar nichts verändern. In Bingen sind die Piraten auf Bundesebene zum ersten Mal überhaupt seit der Mitgliederexplosion 2009 zusammengekommen, fast alle Kandidaten waren der überwältigenden Mehrheit der Teilnehmer gar nicht bekannt, was sowohl zur Länge und Ausführlichkeit der Fragerunde beigetragen hat als auch das Gewicht der Vorstellung auf dem Parteitag für die Wahlentscheidung stark in die Höhe trieb. Mittlerweile ist den meisten klar, dass nur in weiten Teilen der Partei bekannte Piraten überhaupt Chancen auf einen Vorstandsposten haben – eine schöne Vorstellungsrede vorbereiten, den Fragebogen im Wiki ausfüllen und vielleicht zu ein paar Vorbereitungstreffen hinfahren, ist nicht genug. Auch das Verständnis, dass ein Vorstandsamt ein immenses Arbeitspensum bedeutet, sollte sich durchgesetzt haben, sodass niemand sich einfach aus guter Laune aufstellen wird. Daher erwarte ich auch eine viel geringere Zahl von Kandidaten, die gleichzeitig viel weniger Fragen von den Anwesenden zu erwarten haben, da die einzelnen Positionen und Standpunkte bereits weitgehend bekannt sind. Somit bin ich durchaus optimistisch, dass wir am ersten Tag die Personenwahlen hinter uns bringen werden und Zeit für Programm- und Satzungsdebatten übrig bleibt (zwar haben wir in der Vergangenheit Satzungsänderungen einen zweifellos zu hohen Stellenwert zugeschrieben, manche davon sind dennoch wichtig und sollten auf dem Parteitag angegangen werden, beispielsweise Fragen der Beitragsordnung und Entscheidungsfindungsmodalitäten wie Urabstimmungen, dezentrale Parteitage oder Delegierungsmöglichkeiten).
All das führt mich zu der optimistischen Einschätzung, dass es keiner großen organisatorischen Veränderungen bedarf, um den Parteitag erfolgreich zu gestalten. Die Vorbereitung für Chemnitz (Einsatz einer funktionsfähigen Antragskommission, klarer im Vorfeld bekannter TO-Vorschlag) hat zu einem sehr gut organisierten Parteitag beigetragen und sollte auch für die nächsten BPTs übernommen werden. Der einzige Punkt, der von dieser Seite noch optimiert werden kann, ist ein aktiveres Durchgreifen der Versammlungsleitung bei sich wiederholenden Wortmeldungen, die Zeit kosten und absolut überflüssig sind. Weitergehende Vorschläge, wie zum Beispiel eine Frist für die Einreichung von Kandidaturen oder eine pauschale Begrenzung der Anzahl von Redebeiträgen halte ich hingegen für nicht gerechtfertigt. Die mangelnde Vorbereitung seitens der Teilnehmer stellt immernoch ein Problem auf unseren Parteitagen dar, auch wenn man das bei einem 400 Seiten dicken Antragsbuch niemandem wirklich übel nehmen kann. Das kann man aber nicht durch irgendwelche Formvorschriften verändern, sondern nur durch direktes Ansprechen der Mitglieder. Es muss sich letztendlich das Verständnis durchsetzen, dass zu einem Parteitag auch eine intensive Vorbereitung jedes Teilnehmers gehört.
Wie stellst du dir unsere Gesellschaft in 20 Jahren vor?
Der technologische Fortschritt wird sich weiter beschleunigen und ausbreiten; aus rein technologischer Sicht glaube ich, dass die Welt in 20 Jahren für uns ungefähr genauso Science-Fiction-mäßig erscheinen wird, wie das Star Trek-Universum. Wie sich aber die Gesellschaft entwickelt, lässt sich schwer vorhersagen und hängt maßgeblich davon ab, wohin die Politik – und damit auch die Piraten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – steuern wird und wie sie die Herausforderungen der heutigen Zeit überwindet. Ein totalitärer Big Brother Weltstaat liegt durchaus im Bereich des Möglichen, die Anfänge dazu (z.B. INDECT) werden bereits gelegt. Deshalb ist es von enormer Wichtigkeit, schon jetzt nicht nur taktische Ziele zu verfolgen, sondern langfristig zu denken und vor allem die Bürger über die Tragweite politischer Entscheidungen für die Zukunft der Welt aufzuklären. Insbesondere die Bedeutung und Folgen der digitalen Revolution dürfen auf keinen Fall unterschätzt werden, da sie immer mehr Lebensbereiche beeinflussen und mitnichten nur die „Digital Natives“ angehen. Fällt die Kontrolle über den Fluss von Informationen in die falschen Hände, kann es katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft haben. Dafür Sorge zu tragen, dass dies nicht geschieht, zugleich aber die durch Digitalisierung und Vernetzung entstehenden Möglichkeiten und Perspektiven voll ausgeschöpft werden, sehe ich als globale Aufgabe und Verantwortung der Piratenbewegung an.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.