Zensur (klassisch: Vorzensur) war früher! Zeitungen mussten jeden Artikel einem Zensor zur Genehmigung vorlegen. Dieses Vorgehen kam zum Glück völlig aus der Mode – in Deutschland immer wieder: 1815, 1848, 1871 (bzw. 1874), 1918, 1945 und zuletzt 1989. Staatlichen Einfluss auf die Medien gibt es selbstverständlich auch heute noch, er funktioniert nur subtiler. In Italien gehören dem Ministerpräsidenten die wichtigsten Privatsender. In Frankreich besitzt der Präsident keine Rundfunksender, doch die einflussreichen Zeitungen gehören Freunden von Sarkozy. In Deutschland hat die Pressefreiheit Verfassungsrang, Redaktionen die zu offensichtlich schmutzige Regierungsinterna veröffentlichen, werden – auf der Suche nach dem Informanten – trotzdem gelegentlich durchsucht. Und was widerborstigen Fernsehintendanten blüht, ließ sich am Fall Brender verfolgen. Und auch der große Bruder USA kennt offiziell keine Zensur. Doch amerikanische Wirtschaftsunternehmen unterbinden schon mal die Verbreitung unliebsamer Inhalte – Wikileaks ist ein aktuelles Beispiel dafür. Auch in England bat die Regierung die Presse, nicht über Wikileaks zu berichten. Wie Weißrussland und Russland dieser Tage mit kritischen Journalisten umgehen, ist bekannt – allerdings auch wenig subtil.
In nahezu allen deutschen Zeitungen verursachte das neue ungarische Mediengesetz Blätterrauschen. Mit Ausnahme der BILD erschienen überall mehr oder weniger kritische Artikel zur neuen Zensurbehörde in Budapest. Bemerkenswert, ja erschreckend, war der Blick in die Leserkommentare eines Artikels in der ZEIT.
Gleich der erste Kommentar zum Artikel fiel dem Rotstift der Redaktion zum Opfer:
1. Die Nachrichten werden gleichgeschaltet
Entfernt. Bitte diskutieren Sie den Inhalt des Artikels. Danke. Die Redaktion/ag
Auch Äußerungen anderer Kommentatoren wurden mit der Löschtaste der Redaktion bearbeitet:
2. ......................
Entfernt. Bitte äußern Sie sich sachlich zum Thema des Artikels. Danke. Die Redaktion/ag
4. Liebe Frau Caspari
Entfernt. Bitte diskutieren Sie den Inhalt des Artikels. Danke. Die Redaktion/ag
7. Da hat mal wieder die
Entfernt. Bitte beteiligen Sie sich mit sachlichen Argumenten an der Diskussion des Artikels. Danke. Die Redaktion/ag
9. Schon komisch.
Entfernt. Bitte diskutieren Sie den Inhalt des Artikels. Danke. Die Redaktion/ag
14. [...]
Entfernt. Bitte diskutieren Sie das Thema des Artikels. Anmerkungen zur Moderation können Sie an community@zeit.de senden. Danke. Die Redaktion/ag
19. [...]
Entfernt. Bitte diskutieren Sie den Inhalt des Artikels. Anmerkungen an die Moderation können Sie an community@zeit.de senden. Danke. Die Redaktion/ag
Die Flaschenpost fragte bei der Onlineredaktion nach den Gründen für die Entfernung der Leserkommentare. Sebastian Horn von der ZEIT-Redaktion antwortete:
Sehr geehrter Herr Renner,
vielen Dank für Ihre E-Mail. Das Moderationsteam von ZEIT ONLINE achtet darauf, dass ein Mindestmaß an Sachlichkeit und Artikelbezug in den Kommentarbereichen eingehalten wird. Wir unterscheiden keineswegs zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Meinungen, wie Sie schreiben. Mehr dazu finden Sie in unserer Netiquette: http://www.zeit.de/administratives/2010-03/netiquetteMit besten Grüßen,
Sebastian Horn
Die Piratenpartei tritt für Meinungsfreiheit ein. Deshalb schrieben wir die Verfasser der entfernten Kommentare an und boten an, die gelöschten Kommentare in der Flaschenpost zu veröffentlichen.
Vom Leser DDR-Bürger bekamen wir folgende Antwort:
Hallo Herr Renner,
ich werde Ihnen gleich eine Stichprobe vom 20.12. kopieren:
— 20.12.2010 ————————————
54. Medien in der BRD
Es gibt in der Tat einige wichtige Politik-Felder, in denen die Selbstzensur der Medien fast lückenlos funktioniert.
55. Spielwiesen
Richtig ist, daß ich hier schon öfter von Diskutanden Hintergrundinformationen erhalten habe, die ansonsten schwer zugänglich sind. In solchen Foren wie diesem bewegt sich aber nur ein Bruchteil der Bevölkerung. Trotzdem schlägt auch hier oft die Moderation zu. <– ab hier wurde wieder gelöscht
Letztes Beispiel: Als ich auf die Untersuchung von Felix Krautkrämer „Das linke Netz“ hinwies wurde dieser Beitrag prompt gelöscht. Scheinbar sind Sie hier nur selten dabei.———————————————————————-
Die spöttische Bemerkung in Richtung Frau Caspari bezog sich auf die Wortwahl „Gleichschaltung“ mit dem Hinweis, daß solche Wortwahl von der Moderation ungern gesehen wird. Im Übrigen kritisiere ich oft ganz gezielt Autoren von ZEIT-Online. Solche wohltemperierten Konflikte führte ich auch schon in meinem früheren Leben mit den damaligen Machthabern.
Mit freundlichen Grüßen
Vom Leser ichschreibe bekamen wir diese Antwort:
Ich teilte mein Posting in zwei Punkte auf:
Der erste bezog sich auf folgenden Satz des Kommentators dp80: „Dort strotzt das Forum nur von rassistischen, volksverhetzerischen usw. Kommentaren, dass einem in und um Deutschland Angst und Bange wird.“ Ich antwortete sinngemäß, dass die Meinung jener Kommenatoren so oder so dieselbe wäre, ob ihre Kommentare nun gelöscht würden oder nicht, nur dass er im Falle der Löschung ja gar nichts von deren Meinung wisse, also auch nicht wisse, dass er allen Grund hat, Angst zu bekommen.
Als zweites wies ich darauf hin, dass auf der ZEIT Online oft auch solche Kommentare gelöscht würden, die eben gar keine volksverhetzerischen / rassistischen Inhalte aufwiesen und man gerade das ja auch zum Vorwurf machen kann.
Die klassische Zensur ist praktisch nicht mehr existent. Niemand weint ihr eine Träne nach. Die Methoden des Eingriffs in die Meinungsfreiheit sind heute andere. In westlichen Ländern (ich benutze den Terminus westliche Länder hier durchaus als Qualitätsbegriff) durch Besitzverhältnisse, in Ungarn durch eine Behörde, die empfindliche Geldstrafen verhängen kann. In den USA durch willfährige Medien-, Banken und IT-Unternehmen, während sich hier die (Online-)Redaktionen Regeln geben und großzügig die Schere ansetzen. Und gelegentlich die Kommentarfunktion ganz abschalten, wie zum Jahresanfang im ef-Magazin geschehen.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.