Alle Piraten teilen, mindestens bis zu einem gewissen Grade, die Ideale der basisdemokratischen Mitbestimmung. Geht es aber um deren konkrete Umsetzung, dann fehlt es am nötigen Konsens, um ein System einzuführen, oder, wie Kritiker sagen würden, an der Konsensfähigkeit der Systeme.
Beim Liquidizer handelt es sich um ein Umfrage- und Meinungsbildungstool, welches auf eine ähnliche Problemstellung abzielt wie Doodle oder LimeSurvey. Sein Aufbau macht es jedoch wesentlich einfacher an einer großen Anzahl von Einzelthemen zu arbeiten. Anstatt seine Stimme abzugeben und passiv auf das Ergebnis zu warten, lädt der Liquidizer dazu ein, das Stimmgewicht ständig neu zu verteilen. Das Aushandeln der Kompromisslösung wird dadurch zu einem kooperativen Vorgang. Eine detailliertere Kurzbeschreibung gibt es auch auf der Hilfeseite.
Um eine solches System handelt es sich auch wieder beim Liquidizer. Der Liquidizer soll demnächst großflächig eingesetzt werden um einen Vorschlag für die Tagesordnung des kommenden BPT in Heidenheim zu bestimmen. Da die Philosophie hinter dem Liquidizer nicht ganz alltäglich ist, soll sie hier kurz vorgestellt werden.
Das Problem der Gruppenentscheidung ist in keinem Fall eine Spezialität des Menschen. Ein Schwarm von Fischen beispielsweise muss sich permanent auf eine gemeinsame Richtung einigen. Verläuft dies nach dem Prinzip der 50%-Mehrheit? Vermutlich nicht, denn bis ein am Rande schwimmender Exzentriker die Mehrheit von der Existenz des Haifisches überzeugt hätte, wäre diese Mehrheit schon lange aufgefressen. In einem Schwarm sind alle Individuen gleich, genauso wie die Stimmberechtigten auf einem Bundesparteitag. Hat die Evolution da vielleicht ein effizienteres Mittel zur Einigung gefunden als die Stimmkarte?
Sich einigen macht Sinn. Stellen wir uns vor, eine Klüngelgruppe würde immer erst untereinander abstimmen und dann geschlossen ihre Stimmkarte heben. Am Ende des Tages hätte jeder von ihnen mal für mal gegen seine Interessen gestimmt. Rein statistisch jedoch hätte jeder von ihnen mehr Abstimmungen für sich entscheiden können.*
Auch die Piratenpartei muss sich einigen. Entzweit sie sich nämlich, so freuen sich die Dritten, die alteingesessenen Parteien. Den spieltheoretisch begründeten Urinstinkt zur Einigung zu wecken ist das Prinzip des Liquidizers. Er implementiert ein Demokratiemodell, das unter Menschen noch nicht getestet wurde, und das ohne Internet niemals implementierbar gewesen wäre.
In einem Schwarm beobachtet jeder nur den Abstand zu seinem nächsten Nachbarn. Auf diesem Prinzip basiert der Liquidizer. Der politische Abstand zu den Mitschwimmenden wird immer über Emoticons visualisiert. Sind sie zu ärgerlich, so verschenkt man Stimmpotential, da man sich nicht einigt. Sind sie allzu fröhlich, so verschenkt man die Möglichkeit die Gruppe in eine Richtung zu lenken. Man ist immer im Fluss, in permanenter Interaktion, bis die Richtung stimmt.
Sicherlich wird auf diese Weise nicht zu allen Themen eine Einigung hergestellt werden können. Aber klar konsensfähige Positionen werden sich schnell herauskristallisieren. Da jeder Teilnehmer ein begrenztes Stimmgewicht hat, muss er sich über die Wichtigkeit verschiedener Punkte klar werden. Daher eignet sich das Verfahren um eine so begrenzte Ressource wie Zeit aufzuteilen und mit Konsens zu füllen. Eine Testnutzung vor dem BPT in Chemnitz wurde hier dokumentiert.
Man kann es spieltheoretisch berechnen oder man kann es biologisch begründen. Am Ende des Tages handelt es sich doch nur um intellektuelle Turnübungen. Ob es funktioniert oder nicht, hängt nicht von Argumenten ab. Es wird einzig und alleine dadurch bestimmt, ob es von den Aktiven angenommen wird oder nicht, ob es ihnen Spaß macht oder nicht.
Auch die Evolution hat viel experimentiert, bevor sich so etwas Komplexes wie eine Ameisenkolonie aus Individuen von plumpen Krabblern bilden konnte. Die Weisheit der Masse zu extrahieren, ist ein Menschheitstraum, denn er befreit sie dauerhaft von den Tyrannen. Viele Piraten gehören einer Generation von großteils durchtrainierten SimCity- und Civilization-Spielern an. Abwägen, Ausprobieren, Kräftemessen und Kooperieren sind ihre Stärken. Nur so findet man Neues.
Auch wenn der Bundesvorstand die Entscheidung vertagt hat, ob die Mitgliederdaten verwendet werden dürfen, um Wahlberechtigte zu authentifizieren, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um noch Kritik zu äußern und Änderungen zu fordern. Falls noch Bedenken bestehen, sollten diese so früh wie möglich ausgeräumt werden. Die Chancen, die darin bestehen den BPT frühzeitig und kooperativ vorzubereiten, sollte nicht vertan werden.
* Stellen wir uns vor es gibt n Wahlberechtigte. Ohne Klüngel gilt es also n/2 Personen zu überzeugen. Bildet man einen Klüngel von m Personen (m <= n/2), dann muss man nur m/2 Personen im eigenen Klüngel überzeugen und braucht dann noch n/2-m Stimmen außerhalb des Klüngels. Wie man einfach sieht: m/2 + (n/2-m) < n/2. Im Klüngel ist also weniger Überzeugungsarbeit nötig. (Dieser Effekt ist auch als Banzhaf-Paradox bekannt.)
Autor: Stefan Dirnstorfer