Und täglich grüßt der Datenskandal. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob nun die Datensicherheit betroffen ist, oder der Datenschutz. Schließlich ist es für die Betroffenen reichlich irrelevant, ob Sony unfähig ist seine Daten vor rachsüchtigen Hackern zu schützen, die Netzgemeinde die Teilnehmer eines Festivals auf einem hochauflösenden Bild markiert oder Google in seinem neuen Netzwerk Google+ die Teilnehmenden zwingen möchte ihren Personalausweisnamen zu benutzen: Ihre Daten werden fremdbestimmt, dem einfachen Benutzer wird die Kontrolle über ihre Daten genommen. Der totale Kontrollverlust. Und während der Kontrollverlust in den Machtetagen dieser Welt (vom Bürger) begrüßt wird, man denke nur an Wikileaks, ist der persönliche Kontrollverlust hochgradig unangenehm und ruft den wehklagenden Chor der Datenschützer auf den Plan. Denn was tun in einer Zeit, in der Datensätze nicht effektiv vor Zugriff geschützt werden können?
Im Jahr 2011 befinden wir uns am Vorabend einer Welt, in der die Technologie von 1984 zum Greifen nahe ist. Und den Anfang vom Ende erleben wir vermeintlich in den täglichen Angriffen auf die eigenen Daten und die Realität eines ausgehöhlten Datenschutzes, der uns und unsere Privatsphäre freizulegen scheint. Denn wenn alle potentiell alles über uns erfahren können – und somit über mich – bedeutet das auch, dass mein Arbeitgeber mich jederzeit beim blau machen erwischen, meine politische Überzeugung und sexuelle Orientierung stalken und meine Freizeitmeinung auf Stammtischniveau digitalisiert präsentiert bekommen kann. Das Internet bedroht unsere Freiheit klagt es weh aus den (bloggenden) Feuilletons der Republik. Denn neben den potentiellen Problemen mit dem Arbeitgeber, droht z.B. die Konditionierung unserer Lebenswirklichkeit unter Berücksichtigung des Krankenkassensatzes, ja die umfassende Manipulation von Körper und Geist.
Die Grundproblematik ist die strukturelle Unkontrollierbarkeit des Webs und die damit verbundene Vernetzung, die sich tief in die Gesellschaft eingräbt. Datensätze zusammenführen, strukturieren und in Kontext setzen wird täglich einfacher – Geheimnisse werden risikoreicher. Transparenz in den entscheidenden Schaltstellen der Welt hat für unsere bisherigen Vorstellungen von Privatsphäre keinen Platz. Doch wie reagieren: Die Uhren zurück drehen? Cloud Computing und Facebook verbieten? Staatliche Regulierung des Web 2.0? Gegen Windmühlen kämpfen, die bei jeder Berührung multifach Gegenenergie produzieren?
Privatsphäre ist die Sphäre meines Ich, die Sphäre in der ich mich frei entfalten können darf, in der ich mein Ich entwickeln kann, abseits von Zwang und Repression. Diese Sphäre gilt es im digitalen 21. Jahrhundert zu schützen. Datenschutz kann das nicht mehr leisten, ja konnte es noch nie leisten, galt doch für die marginalisierten und armen Teile der Bevökerung niemals der gleiche Datenschutz wie für die priviligierten. Die Daten(schutz)skandale offenbaren somit vor allem eins: Die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Überhaupt spiegelt das Web die unbequemen Wahrheiten über das Bestehende wider. Doch spiegelt es sie eben nur und produziert sie nicht. Die zentrale Bedrohung meiner Person ohne Datenschutz betrifft die soziale Existenz meiner Person und die Unabhängigkeit meines Geistes in der analogen Welt.
Datenschutz gilt immer noch als Ultima Ratio im Kampf dieser Spiegelung – bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber den wahren Problemen der Gesellschaft und zu Lasten einer freien Vernetzung und Kommunikation. Und so stellt sich die Frage: Weiter den Datenschutz als stummpfes Schwert gegen die unfairen gesellschaftlichen Verhältnisse hochhalten und die digitale Revolution gewaltsam entschleunigen, oder die Beschleunigung der letzten Jahre als Anlass nehmen entscheidende Reformen auf den Weg zu bringen. Krankenkasse für alle, ein Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe und eine Gesellschaft in der Fehler verziehen werden, wären die zu artikulierenden Ziele.
Wir stehen an einem Scheidepunkt, der es uns gebietet inne zu halten: Drehen wir die technologische Entwicklung zurück oder streben wir eine Gesellschaft an, in der Datenschutz als Feigenblatt für die bestehenden Verhältnisse nicht länger notwendig ist?
Geschrieben von Julia Schramm für die Berliner Wahlkampfzeitung Kaperbrief