Im täglichen Umgang mit den Piraten kann man immer wieder feststellen, dass das analytische Denken weitaus ausgeprägter ist als ihre Fähigkeit zur Empathie. Das mag an der meist technischen Ausbildung der Piraten liegen, oder nicht. Vielleicht ist es im Selbstverständnis der Piraten begründet. Während andere Parteien “Mitglieder” haben, bezeichnet sich ein Mitglied der Piratenpartei sich als “Pirat”. Diese Überidentifikation führt zu sozialen Problemen, die immer häufiger und heftiger in die Partei hineingetragen werden. Wenn ich nicht “einfach nur Mitglied” der Piratenpartei bin, sondern ein “Pirat”, betrifft mich jeder Fehler persönlich. Die Reaktionen sind daher stark und oft unsachlich. Eine der wichtigsten Ursachen ist, dass das Verhältnis der Piraten zu ihrer Partei zu intensiv und umfassend ist. Freunde und Familie werden vernachlässigt, es kommt zum Burnout. Die Piratenpartei sollte nicht als Partnerersatz missverstanden werden. Die Piraten sind keine Freunde, die Piraten sind eine Partei. Das muss natürlich nicht bedeuten, dass unter den Freunden nicht auch Piraten sein können.
Ein aktiver Pirat bekommt schnell den Eindruck, dass er fast alleine die Partei zum Erfolg pusht. Da dies aber nicht genügend anerkannt wird (es gäbe keine ausreichende Anerkennung für einen idealistischen Totaleinsatz), führt das oft dazu, dass sich die “Aktiven” als die “besseren” Piraten fühlen. Dies fällt dann mit einer häufig wenig ausgeprägten “sozialen Kompetenz” zusammen (eine typische Piratenfrage wäre jetzt, den Begriff korrekt zu definieren, was in einer Endlosdiskussion enden würde). Ich mache es mir einfach: Sozial kompetent ist man, wenn man viele Unterstützer für seine Arbeit gewinnen kann. Das klappt nicht, wenn man sich als Herrscher über den „eigenen“ Themenbereich aufführt. Leider laufen in solchen Fällen selbst gute Aktionen ins Leere, denn alle Helfer wollen sich ebenbürtig als Initiator sehen. Sollte ein aktiver Pirat sich einmal gründlich unbeliebt gemacht haben, werden auch sinnvolle Aktivitäten nicht mehr unterstützt.
Diskussionen bei den Piraten funktionieren in kleinen Gruppen, wie AGs, oft sehr gut. Im größeren Kreis entgleisen sie häufig zu Rede und Gegenrede bei festen Standpunkten. Aber was ist eine Diskussion eigentlich? Ich zitiere jetzt keine Wikipedia-Erklärung, sondern meine persönliche Meinung: Eine Diskussion ist ein Austausch von Meinungen, wobei es immer eine Bereitschaft geben muss, seine eigene Meinung zu modifizieren. Eine Diskussion ist nicht das Vortragen von Thesen, von denen man nicht bereit ist abzurücken. Praktisch sieht eine Diskussion oft so aus: Mehrere selbstbewusste Piraten stellen Thesen in den Raum, die anderen sind Zuhörer, die es zu gewinnen gilt. Es ist wie bei den etablierten Politikern: Die guten Selbstdarsteller wollen punkten. Anders als bei etablierten Politikern lassen sich die Piraten davon aber nicht unbedingt beeindrucken. Aber sie widersprechen auch nicht. Sie verhalten sich passiv, so können die Selbstdarsteller oft nicht wissen, ob ihre Thesen wirklich Anerkennung gefunden haben. Es bleibt schließlich der Eindruck, die aktiven Piraten wären wenig konsensfähig, aber sie gehen oft aus dem „Ring“ und wissen nicht ob sie gepunktet haben. Wenn die Akteure die Bühne verlassen haben und die passiven Piraten miteinander sprechen, werden die vorgetragenen Meinungen gegeneinander abgewogen, aber leider nicht nur die Meinungen, sondern auch die Personen verglichen. Ist ein Pirat beliebt, wird auch die schlechtere Idee angenommen. Es wird nach Köpfen entschieden, nicht nach Argumenten. Ein aktiver Pirat sieht erst bei Wahlen, welchen Eindruck er in der Basis wirklich hinterlassen hat. Für manche ein Schock.
Was im vorherigen Absatz freundlich als passive Piraten bezeichnet wurde, ist auch oft Ängstlichkeit. Nicht einmal die Ängstlichkeit vor anderen zu sprechen, sondern sich offen zu einer Meinung zu bekennen. Da sind wir wieder bei der sozialen Kompetenz. Diese Angst ist nicht unberechtigt, denn wenn jemand sich nicht durchsetzen kann, wird er übergangen, kann er sich durchsetzen, wirbt aber für die “falsche” Meinung, wird er gebasht. Die Piraten sind strikt gegen körperliche Gewalt, aber was verbale Verletzungen angeht, haben viele von ihnen keinerlei Hemmungen. So sind (heimlich) weinende Piraten keine Seltenheit. Dies wird mit einem #mimimi abgetan, weil Piraten sich sehr oft nicht im Klaren sind, was Worte für Verletzungen anrichten können. So strikt Piraten gegen körperliche Gewalt sind, so wenig können sie einschätzen, wie zerstörerisch Worte sein können. Dies merkt man auch beim gezielten Mobbing einzelner Piraten. Den Tätern ist entweder nicht bewusst, wie schwer Mobbingopfer leiden, oder aber sie gehen von einem extremen Sozialdarwinismus aus. Wer heftigste und sehr persönliche Anfeindungen nicht aushält, ist kein Pirat. Sollte man jetzt den Schluss daraus ziehen, dass mental brutale Piraten die Partei übernehmen sollen? Wie das aussehen würde, kann sich jeder selber ausmalen.
Bei Konflikten gibt es in der Piratenpartei nicht einmal den Ansatz eines zivilisierten Umgangs miteinander. Es werden Schlichterkreise gegründet, die nicht in Anspruch genommen werden. Die AG Soziale Kompetenz (AG SoKo) befindet sich in Gründung, ob sie Lösungen anbieten kann bleibt abzuwarten.
Denn der Kern des Problems ist, dass kaum ein Pirat bei einem Konflikt bereit ist ihn parteiintern, z. B. mit einem Mediator, zu lösen. Warum auch? Es geht bei derartigen Konflikten oft darum einen Piraten aus der Partei zu vertreiben. Ist das gelungen, wird es als Sieg gesehen. Nach dem Motto „Reisende soll man nicht aufhalten“. In letzter Zeit wurden einige aktive Piraten erfolgreich aus der Partei vertrieben. Morddrohungen und zerstochene Autoreifen gehören zum Einschüchterungsproramm. Inzwischen häufen sich die Fälle, in denen selbst die Schiedsgerichte umgangen werden, und die Piraten sich gegenseitig bei der Staatsanwaltschaft anzeigen. Wegen übler Nachrede oder Beleidigung. Der Gang zum Anwalt wird als normaler Weg gesehen, um einen innerparteilichen, oft auch zwischenmenschlichen Konflikt zu lösen. Dies dürfte auch ein Alleinstellungsmerkmal unter den Parteien sein – leider.
Aber warum sind ansonsten kluge Menschen nicht in der Lage persönliche Konflikte zu lösen? Meiner Meinung nach liegt es an der fehlenden Empathiefähigkeit. Viele Wissenschaftler halten Empathie für eine angeborene Fähigkeit, die aber bei mangelnder Übung verkümmert. Empathie ist die erlenbare Befähigung auf die Gefühle eines anderen Menschen adäquat zu reagieren. Es bedeutet nicht Mitleid, sondern die Fähigkeit Gefühle wahrzunehmen und richtig zu deuten. Warum schneiden Piraten vor allem in schriftlicher Form dabei so schlecht ab? So kommt es immer wieder zu Anfeindungen wie “…mit Spacken wie dir spreche ich nicht… dein IQ ist unter Raumtemperatur, du linkskonservativ-verbohrter Ideologe” usw.
Wer kein dickes Fell hat, nicht selbstbewusst genug ist, empfindet solche Aussagen als Kränkungen. Aber wer dies ehrlich zugibt, wird mit einem #mimimi abgestraft. Ein Pirat hat nicht das Recht sich durch Worte verletzt zu fühlen. Hier würde die Empathie einsetzen. Selbst wenn man sich selber von groben Bemerkungen nicht aus der Fassung bringen lassen würde, sollte man in der Lage sein zu verstehen, dass Menschen verschieden sind. Empathie fängt an mit der Achtung vor anderen Menschen.
Die meisten Menschen halten sich entweder für Menschenkenner oder sie sind der Meinung, dass die Mitmenschen sie so zu nehmen haben wie sie sind. Menschenkenntnis ist lernbar, einzige Voraussetzung ist Interesse und Respekt. Gerade Piraten sprechen gerne davon, dass sie nicht in Schubladen gesteckt werden möchten. Aber genau das passiert, wenn man schnell über seine Mitmenschen urteilt. Als positives Vorbild kann man Mr. Spock nehmen. Für ihn ist alles Neue erst einmal “faszinierend”. Wer sich mit dieser Einstellung durch die Welt bewegt, wird weder so schnell verletzt, noch enttäuscht.
Ein versöhnlicher Abschluss: JuPis vor
Die Jupis haben diese Probleme nicht. Weder große Shitstorms, noch anonymes Gebashe. Sie sind in der Lage Konflikte selber zu lösen und verbrennen sich nicht in Kleinkriegen. Von den Jupis können wir „alten“ Piraten lernen, wie man aktiv am Piratenleben teilnimmt, ohne sich zu verschleißen.