“Täglich ein neues Mitglied, stetig steigende Umfragewerte – die Piratenpartei schwimmt auf einer ungeahnten Sympathiewelle” – so lautete der Begleittext des NDR zu einer Reportage über die Bremer Piraten. Ein Kamerateam filmte fast zwei Stunden und zeichnete Interviews auf. Die Flaschenpost berichtet von den Aufnahmen, der Sendung und den Zuschauerreaktionen.
Jonathan Maurer, Pirat aus Bremen, war “Zaunzeuge” der Aufnahmen und berichtet über den Take:
Am Montag, den 10. Oktober 2011, durften wir Piraten in Bremen ein Team
von Ihnen in unserer Geschäftsstelle begrüßen.Sie waren freundlich, nett, haben viele Fragen gestellt und auch viele
freundliche Antworten erhalten. Sie wurden höflich behandelt und selbst
nachdem wir den Stammtisch eigentlich schon beenden wollten, haben wir
uns noch ein paar Themen gesucht über die wir sprachen, damit das
TV-Team noch etwas mehr Bild- und Tonmaterial bekommt.Die Interviews wurden auf Bitten Ihres Teams in unserem Materialkeller
geführt, da dort mehr Ruhe war als in der anspruchsvoll gestalteten
Geschäftsstelle selbst, wo sich zum Zeitpunkt des Eintreffens noch ca.
30 Personen aufhielten. Es wurden noch Flaggen
aufgehangen um etwas anderes im Hintergrund zu haben als die nackte
Wand. Der Kameramann hat, zumindest bei einem Blick von mir durch den
Sucher auch schön auf Portrait gezoomt, sodass ausschliesslich der
Oberkörper und Kopf vor den Flaggen zu sehen war.Mitglieder des Vorstandes wurden über einen längeren Zeitraum
interviewet, es gab einige Fragen von Ihnen und viele Antworten von uns
– zu jedem Thema.Die Bitte, ob wir die Rohdaten der Sendung erhalten könnten, wurde von
Ihrer Reporterin negativ beschieden, jedoch könnten wir gerne einen
Mitschnitt der Sendung selbst erhalten.
Die Aufnahmen wurden dann geschnitten, die resultierenden 2:45 Minuten am Abend gesendet, im Netz ist die Reportage in der Mediathek des NDR zu sehen.
Das war nun nicht unbedingt das, was die Piraten erwartet hatten. Denn in der Sendung war ausschliesslich das zu sehen, was eine seriöse Berichterstattung nicht interessiert: Viele “ähhs” und “öhhs”, Husten und Hüsteln, das Glattziehen der Kleidung, aufgeblasene Backen und ausgestossene Luft. Entsprechend groß ist die Ernüchterung bei den Bremer Piraten.
Jonathan Maurer schreibt weiter:
Was Sie aus dem vorhandenen Material, welches über 1,5 Stunden beinhalten dürfte, in
die 2:42 Minuten geschnitten haben ist in meinen Augen eine
Respektlosigkeit sondergleichen, meine Enttäuschung über Ihren Sender,
welchen ich bislang als seriös eingestuft habe, ist kaum in Worte zu fassen.Zu etwaigen Kritikpunkten über uns:
Richtig ist, dass wir keine Medienprofis sind. Noch nicht.Richtig ist auch, daß wir alle, ausnahmslos alle, die Tätigkeiten bei
der Piratenpartei ehrenamtlich ausüben.
Ebenfalls korrekt ist, dass wir nicht spontan direkt über jeden Punkt in
unserem sehr umfangreichen Programm Auskunft geben können, wollen und
werden.Richtig ist ebenfalls, dass wir Fehler gemacht haben: keine Fragen bei
Ihnen eingefordert, nicht selbst den Ort der Interviews vorgegeben,
nicht die Sendung vor Ausstrahlung geprüft und die Ausstrahlung ggf.
untersagt.Nun zur Kritik an Ihnen:
Richtig ist, dass wir keine Informationen vorab hatten, welche Fragen
gestellt werden. Eine Sache, welche die Höflichkeit gegenüber dem
Gesprächspartner im Regelfall gebietet und von Ihnen (wissentlich und
absichtlich?) ignoriert wurde. Danke dafür.Richtig ist ebenfalls, dass wir nicht darauf bestanden haben, die
Interviews in unseren Geschäftsräumen zu führen, sondern – aus Höflichkeit
Ihrem Team gegenüber – der Bitte Ihres Teams entsprochen haben, diese im
Keller zu führen, da es dort ruhiger ist. Dies wurde von Ihnen
respektlos und unhöflich negativ ausgeschlachtet. Seriös ist das nicht.Ihr Team bat um mehr Zeit und Unterstützung für weiteres Bild- und
Tonmaterial. Wir haben uns, obwohl wir den Stammtisch an sich für den
Abend beenden wollten, erneut zusammengesetzt und uns über weitere Themen
unterhalten. Welche genau dürften Sie sehr gut wissen – es sei denn es
haben unfähige Praktikanten diesen Beitrag zusammengestellt, geschnitten
und die Redaktion gepennt. Unfähig, ehrlos, respektlos, unhöflich,
unseriös.Unglaublich, dass so etwas vom NDR kommt, bei gewissen privaten Sendern
kann man mit so etwas rechnen, selbst von Amateuren bin ich jedoch
besseres gewohnt. Ihr Beitrag strotzt vor Unhöflichkeit und unseriösem,
inkompetentem Journalismus.Wir haben Ihr Team freundlich und höflich behandelt und so wird es
gedankt? Ein Fehler, der mir persönlich sicher nicht erneut unterlaufen
wird.
Die Zuschauerreaktionen sind ein Schlag ins Gesicht der Redaktion. Im Forum zur Sendung ist von “tendenziösem Agenda-Journalismus” die Rede, man solle die Verantwortlichen “vor die Tür setzen”, die Qualität sei “unter aller Sau”. Von “großer Enttäuschung” wird geschrieben, vom “untersten Präkeriatsfernsehen”, von “Respektlosigkeit” und “durchgegangenen Pferden”. Worte wie “inakzeptabel”, “beschämend”, ‘”erbärmlich”, “billig”, “Mist”, “unfassbar”, “peinlich” und “Frechheit” herrschen vor. Der Redaktion wird eine “peinliche Nummer” attestiert, eine “miese Masche”, dazu die Absicht die Piraten “medial abzuschießen”, man habe die Piraten “aufs Glatteis geführt”, eine “bewusste Meinungsmache” war es sowieso. Der Beitrag wird “widerwärtig” genannt, ein “epic fail” der Konsequenzen haben müsse. Die Redaktion sei “eine Schande für den Berufsstand”, ein Kommentator schleudert ihr ein “Pfui Teufel” entgegen, einer schreibt “Setzten! 6”.
Die Kritik am GEZ-System bleibt dabei nicht aus. Zuschauer sehen das Ende des gebührenfinanzierten Fernsehens nahe, ein Norddeutscher schreibt vom “kulturellen Verfall der Gesellschaft, der sich auch bei den öffentlichen Medien zeigt”. Viele fordern eine Entschuldigung des Fernsehteams ein, die sonst so kühlen Hanseaten sind der Meinung “das kann ja wohl nicht angehen”.
Bis zum Redaktionsschluss dieses Artikel wurden 161 Kommentare geschrieben, nur drei Kommentatoren vertraten die Meinung, dass Piraten sich dieser Art der Berichterstattung stellen müssen.
Nicht nur im Forum des NDR ist das Echo groß, auch einige Blogger nahmen sich der Sache an. In den Kommunikationskanälen der Piraten kochte die Stimmung seit der Ausstrahlung ohnehin. So kommentiert Dirk Hillbrecht, ehemaliger Vorsitzender der Piratenpartei, den Vorfall und gibt gleich Tipps für den Umgang mit Journalisten:
Das ist dann mal so ein Beitrag, der gezielt gegen die
präsentierten Personen arbeitet. Dem NDR muss man anlasten, dass sie
ganz gezielt die Schwächen der Location und der Leute gesucht, gefunden
und herausdestilliert haben. Insbesondere dürften die Aussagen durch die
Schnitte mehrfach entstellt und einmal sogar ins Gegenteil verkehrt
worden sein.
[…]
Man muss nicht über jedes Stöckchen springen, dass einem
hingehalten wird. Ein Rumpelkeller mit niedriger Decke ist niemals ein
geeigneter Ort für ein Interview. Und wenn ein Journalist was anders
behauptet, dann riecht das schon danach, dass der da auf was anderes
hinauswill. Es ist eure Location, ihr habt den Heimvorteil. Nutzt ihn.
Lehnt Sachen ab, die euch nicht passen.Es schadet nicht, wenn die Leute, die da vor der Kamera sind, sich
immer dessen bewusst sind: Solange das Ding läuft, können die das
senden. Und auf nicht allzuweit hergeholte Fragen zum Programm und zur
Politik allgemein sollte man einfach Antworten parat haben. Spielt sowas
durch, interviewt euch gegenseitig, lasst einen als Advocatus Diaboli
agieren und veranstaltet politische Streitgespräche. Nichts übt besser,
weil man dann schon ahnt, mit was ein “böser” Fragesteller so ankommen
wird. Wenn eine Frage kommt, für die es keine Antwort gibt: Einfach das
Thema wechseln. Sicher: Ein Journalist, der unbedingt einen negativen
Beitrag schreiben will, der wird das immer hinbekommen. Aber man muss es
ihm ja nicht einfacher machen als nötig.Das mit der Kameraeinstellung hättet ihr übrigens durchaus merken
können: Ihr wart zu mehreren, da hätte einer auch mal schauen können,
was die Herrschaften Journalisten so treiben. Die haben das Ding ja die
ganze Zeit im vollen Weitwinkel gelassen.Anyway: Anschauen und draus lernen. Weiterhin respektvoll miteinander
umgehen. Nicht hoffen, dass der Journalist, wenn er zwischen positivem
und nicht so positivem Material auswählen kann, immer das positive
nehmen wird. Und in diesem speziellen Fall mal bei der Journalistin
nachhaken, was sie sich in Gottes Namen bei diesem Beitrag gedacht hat
und dass man das definitiv nicht in Ordnung findet.
Auch ein Häkelschwein kommentiert das Lehrstück. Nur der NDR schweigt beharrlich. Abgesehen vom Versuch die Sendung “Menschen und Schlagzeilen” für dieses eine Mal zum Satireformat zu erklären herrscht – Sendestille. Unbekannt ist allerdings, wie viele Protestmails die Fernsehredaktion des NDR bereits bekam.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.