Gastbeitrag von Fabian Herrmann (@NeilBrainstrong)
Jeder hat schon den Begriff “Energie” gehört. Aber die wenigsten wissen genau, was damit gemeint ist. Energie – das hat etwas mit Elektrizität zu tun, mit Autos und Flugzeugen, mit Heizungen und Wasserkochern, man benötigt sie in Fabriken und in der Landwirtschaft – aber worum handelt es sich genau?
In Physik und Technik ist Energie ein klar umrissener Begriff: Es handelt sich um die Fähigkeit, eine träge (der Geschwindigkeitsänderung widerstehende) Masse zu beschleunigen, oder eine schwere (der Gravitation unterliegende) Masse entgegen der Gravitation zu bewegen. Letzteres kann man auf alle Naturkräfte verallgemeinern: Um einen Körper gegen ein Kraftfeld, das auf ihn wirkt, zu verlagern, muss man Energie aufwenden.
Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden – wenn von “Energieerzeugung” die Rede ist, meint man die Umwandlung von einer weniger nützlichen in eine nützlichere Form, zum Beispiel die Nutzung der Bewegungsenergie des Windes zur Erzeugung elektrischer Energie. Bei jeder Umwandlung treten Verluste in Form von Wärme auf.
Die Einheit der Energie is das Joule (Formelzeichen J). Es gibt die Energie an, die man braucht, um eine Masse von 1 kg auf 1 m/s zu beschleunigen, oder sie im Erdschwerefeld 10.2 cm hoch zu heben. Wird eine gewisse Energie in einer bestimmten Zeit verbraucht, kann man diesen Verbrauch als “Leistung” ausdrücken: Energie pro Zeit. Die Leistungseinheit ist das Watt: 1 W = 1 J / s. Ein Wasserkocher mit einer Leistung von 1000 W setzt also 1000 J an thermischer Energie pro Sekunde frei.
Energie ist für alle Lebensprozesse nötig. Auch jeder Rechenprozess, jeder industrielle Produktionsvorgang, jeder Transport und jeder Informationsaustausch benötigt eine bestimmte Energiemenge. Daher ist der Energieverbrauch der Menschheit im Laufe der Geschichte immer weiter angestiegen. Er liegt zur Zeit weltweit bei 1.5*10^13 Watt, ist aber sehr ungleichmäßig verteilt: Ein Deutscher nimmt rund 6000 W auf, ein US-Amerikaner fast 11000 W. In den Drittweltländern stehen dagegen jedem Menschen nur wenige 100 W zur Verfügung.
Steigerung von Wohlstand und Lebensqualität sowie wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Erhöhung der industriellen Produktion sind stets mit einem Anwachsen des Energieverbrauchs verbunden. Energiesparende Erfindungen wie Wärmepumpen (als Ersatz für ineffiziente Gasheizungen) oder Elektroautos vermögen zwar den Energieverbrauch momentan zu drosseln, wenn die Menschheit sich jedoch weiterentwickeln will, wenn man allen Menschen einen hohen Lebensstandard gönnt, wenn man auf der ganzen Welt eine moderne Industrie mit hohem Automatisierungsgrad aufbauen und mit der Erschließung des Weltraums Ernst machen möchte, dann kommt man nicht darum herum, noch wesentlich höhere Energieflüsse als heute bereitzustellen. Eine grobe Richtlinie könnte sein, zehn Milliarden Menschen einen pro-Kopf-Verbrauch von 10000 W zuzusprechen: Dies ergibt einen weltweiten Leistungsumsatz von 10^14 W – rund 6.7 mal mehr als heutzutage.
Das Knifflige besteht nun darin, diese Leistung aus Ressourcen herauszuziehen, die zum einen nicht im Laufe des 21. Jahrhunderts erschöpft sein werden, und zum anderen die Atmosphäre nicht mit dem Klimagift Kohlendioxid anreichern.
Prinzipiell vermag dies die Solarenergie zu leisten. Bedeckt man in der Sahara 6.7 Mio km^2 mit Sonnenwärmekraftwerken (bei einer Flächenleistungsdichte von 15 W/m^2), dann erhält man insgesamt 10^14 W. Man führe sich jedoch vor Augen, dass dies fast zwei Drittel der Fläche Europas sind!
Natürlich wird man nicht den gesamten Weltenergieverbrauch aus der Sahara heraus bestreiten. Nordamerika hat im trockenen Südwesten der USA riesige Flächen, die für Solarkraftwerke in Frage kommen, Südamerika die Atacama und die patagonische Wüste, Ostasien die Wüste Gobi, Ozeanien die australische Wüste. Photovoltaik lässt sich – im Gegensatz zu Sonnenwärmekraftwerken – auch an Orten mit überwiegend diffuser Lichteinstrahlung, zB. in Mitteleuropa, nutzen. Hinzu kommen noch substantielle Beiträge von Windkraftanlagen, sowie kleinere von Wasserkraft, Gezeiten, Wellen, Meeresströmungen, Biomasse und Erdwärme. In tropischen Gewässern kann eventuell auch OTEC (Ocean Thermal Energy Conversion – quasi die Nutzung des Meeres als riesige Solarthermikanlage) zum Einsatz kommen.
Die komplette Versorgung der Menschheit auf hohem Niveau aus klassischen erneuerbaren Quellen ist daher theoretisch möglich – die Betonung liegt allerdings vorläufig auf “theoretisch”. Riesige Solarkraftwerke und Windparks bauen sich nicht von heut auf morgen. Dazu sind gewaltig Mengen an Rohstoffen, sowie unzählige Arbeitsstunden von Menschen auf der ganzen Welt nötig. Im Vergleich wirkt das Apollo-Mondprogramm der NASA wie ein kleines Divertissement. (Der Vergleich ist allerdings problematisch: Bei Apollo floss der größte Arbeitsaufwand in Forschung und Entwicklung, die Materialkosten waren dagegen vernachlässigbar. Eine weltweite Komplettumstellung auf erneuerbare Energien würde vor allem aus dem Aufbau von Anlagen auf Basis bereits fertigentwickelter Technologien bestehen.)
Bis die nötigen Anlagen und die zugehörige Infrastruktur (Hochspannungsleitungen, Zufahrtstrassen zur Wartung, Ersatzteillager, Unterbringungen für das Bedienpersonal usw.) gebaut sind, sollten wir also nach anderen Wegen suchen, viel Energie bereitzustellen und gleichzeitig das Klima zu schützen. Sofern man nicht auf die fragwürdige CCS-Technologie zurückgreifen möchte (in den Boden gepresste Kohlendioxidlagerstätten sind nicht jedermanns Sache), vermag dies nur die Kernenergie zu leisten.
In Deutschland stellt sich den meisten Leuten das Nackenhaar auf, wenn sie das Wort “Kernkraftwerk” hören. Kernenergie erscheint gradezu als das Sinnbild gefährlicher, umweltschädlicher Technologien. Man verweist auf die drei bisher erfolgten großen Unfälle – Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima – und darauf, dass niemand wüßte wohin mit den radioaktiven Abfällen. Diese Einwände vernachlässigen aber, dass alle unsere Reaktoren noch aus den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen. Neukonstruktionen und wesentliche Weiterentwicklungen wurden seither nicht mehr vorgenommen. Die Risiken der Kernkraft sind somit ein hausgemachtes Problem: Hätte man, anstatt sich bei den ersten Anzeichen für technische Risiken entsetzt von der Technologie abzuwenden, konsequent neue, sicherere Reaktorkonzepte – zB. den Hochtemperaturreaktor (HTR) – erforscht und auch zum Einsatz gebracht, würden viele der gegen die Kernenergie vorgebrachten Bedenken gegenstandslos werden. Es existieren Entwürfe für inhärent sichere Reaktoren, bei denen der Super-GAU rein physikalisch unmöglich ist: Außer dem schon erwähnten HTR wird auch der Thoriumfluoridreaktor diskutiert, der zur Zeit vor allem in Indien erprobt wird, und der bislang allerdings nur als Entwurf vorliegende Laufwellenreaktor. Die beiden letzteren können sogar im Normalbetrieb mit Atommüll “gefüttert” werden und diesen unter Energieausbeute in kurzlebigere Nuklide transmutieren. Würde man also auf die Risiken der Kerntechnik nicht mit Paranoia, sondern rational reagieren, und umfangreiche Forschungsanstrengungen in die Entwicklung von Kernkraftwerken der IV. Generation investieren, bei denen die Risiken stark vermindert sind oder gar nicht auftreten, dann würde man über eine starke, klimaneutrale Energiequelle verfügen, die uns helfen könnte, viele Menschen auf der Erde mit elektrischer Energie zu versorgen, ohne dass dabei das Weltklima noch weiter durch CO2-Ausstoß destabilisiert wird.
Viele werden nun einwenden: Schön und gut, aber ist Uran denn nicht auch eine sehr begrenzte Ressource? Reichen die Vorräte denn wesentlich weiter als Öl und Kohle? Die Antwort ist überraschend: Uranerze sind zwar recht begrenzt vorhanden (wobei bemerkt sei, dass sicherlich viele Lagerstätten noch nicht entdeckt wurden – nach 1980 wurde kaum noch nach Uranerz gesucht), es existiert jedoch eine zweite Quelle, in der wesentlich größere Vorräte enthalten sind. Es handelt sich um das Meer.
Im Meerwasser sind insgesamt rund 4,5 Milliarden Tonnen Uran gelöst. In Japan wurden bereits Extraktionsverfahren getestet, mit denen dieses Uran herausgezogen werden kann. Die heutzutage vorhandenen Kernkraftwerke verbrauchen rund 50.000 Tonnen Uran pro Jahr. Stellt man also nur 10% des Meerwasser-Urans zur Verfügung, so könnte man sie damit 9.000 Jahre lang betreiben. Allerdings setzen sie zusammen nur etwa 370 GW (370 Milliarden Watt) frei. Aufgeteilt auf 10 Milliarden Menschen ergibt dies nur 37 W pro Mensch – nicht wirklich viel. Bei einer Verzehnfachung auf 370 W pro Mensch wäre man immerhin noch 900 Jahre lang im Rennen. Es existieren jedoch auch sogenannte Brüter, die nicht nur Uran 235 wie die gewöhnlichen Kernkraftwerke nutzen, sondern auch das Uran 238, welches über 99% des natürlich vorkommenden Urans ausmacht. Sie wandeln es in spaltbares Plutonium 239 um, und erreichen so eine Steigerung der Energieausbeute um einen Faktor 60. Damit ließen sich zehn Milliarden Menschen 1.000 Jahre lang mit pro Kopf über 10.700 W versorgen, wenn 10% des Meeresurans nutzbar gemacht werden würden.
Der Thoriumfluoridreaktor benutzt dagegen, wie sein Name schon sagt, als Ausgangsbrennstoff kein Uran, sondern das dreimal häufigere Element Thorium. Die wirtschaftlich abbaubaren Ressourcen werden weltweit auf 6 Millionen Tonnen geschätzt (im Meer befindet sich keines, da Thoriumoxid kaum wasserlöslich ist). Ein 1 GW-Thoriumreaktor verbraucht rund 6 Tonnen pro Jahr. Ähnlich wie in einem Uran-Brutreaktor wird dabei der Brennstoff fast vollständig umgesetzt. Verteilt man die Thoriumvorräte auf 1000 Jahre und zehn Milliarden Menschen, ergeben sich 100 W pro Person, bei einer Nutzungszeit von 100 Jahren 1.000 W. Die 6 Millionen Tonnen sind allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gering geschätzt, da bislang kaum nach Thoriumlagerstätten gesucht wurde. Auch schlug der Nobelpreisträger Carlo Rubbia vor, einen durch einen Teilchenbeschleuniger verstärkten Thoriumreaktor zu konstruieren. Mit diesem würden 6 Millionen Tonnen Thorium 614 W über 1.000 Jahre pro Person liefern. Rubbia vermutet auch, dass rund 300 mal mehr Thorium aus der Erdkruste abgebaut werden kann als die bekannten 6 Millionen Tonnen. Falls er recht hat, ließen sich über 18.000 W pro Person 10.000 Jahre lang bereitstellen.
Zu all diesem kommen noch die vorhandenen Atommüllvorräte hinzu, die von Thoriumfluoridreaktoren (und einigen Uranreaktorendesigns) als “Zusatzfutter” genutzt werden und so zusätzlich Energie liefern könnten. Weiterer Spaltstoff kann aus im Rahmen der Abrüstung außer Dienst gestellten Atombomben gewonnen werden.
Später, in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts, wird man vermutlich auch Fusionsreaktoren bauen können, von denen prinzipiell kaum nukleare Risiken ausgehen und deren Rohstoffe im Meerwasser für menschliche Begriffe unerschöpflich sind. Zusammen mit der bis dahin hoffentlich großflächig ausgebauten Solartechnik könnte diese Energiequelle alle Menschen mit elektrischer Leistung auf europäisch/nordamerikanischem Niveau versorgen und auf der ganzen Welt einen hohen Lebensstandard ermöglichen.
Was ergeben sich aus diesen Möglichkeiten für energiepolitische Schlussfolgerungen? Zum einen ist eine sofortige Abschaltung der Reaktoren das Letzte was man sich wünschen sollte – auf die Schnelle können sie nur durch fossile Energieträger kompensiert werden, und jede zusätzliche Tonne Kohlendioxid in der Atmosphäre ist eine Tonne zuviel. Zum anderen sollte man, anstatt von jeglicher Kerntechnik angstvoll die Finger zu lassen, in Forschungsprojekte zur Entwicklung der nächsten Generation von Kernkraftwerken investieren. Starke, kompakte, klimaneutrale Energiequellen sind unverzichtbar, um die Entwicklung der Menschheit zu fördern, die Umwelt zu schützen und den Lebensstandard in wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern zu heben. Auch Afrika, Indien und Südamerika sollten endlich die Möglichkeit bekommen, ins Hochtechnologiezeitalter einzusteigen um ihren Bürgern ein Leben zu ermöglichen, das nicht vom ewigen Druck der Güterknappheit geprägt ist!
Darüber hinaus könnten Hochtemperaturreaktoren erforderlich sein, um in Dürreregionen (die sich leider dank Treibhauseffekt zur Zeit stark ausbreiten), Meerwasser in großem Stil zu entsalzen.
Eine interessante, in diesem Zusammenhang zuweilen gestellte Frage lautet, ob denn nicht auch die Kernenergie einen verhältnismäßig hohen CO2-Footprint habe. Natürlich ist ein Kernkraftwerk an sich komplett CO2-neutral. Zur Konstruktion der Anlage sind jedoch große Mengen an Stahl und Beton nötig, deren Produktion mit Kohlendioxidausstoß verbunden sind. Man kann also die Frage stellen, in welchem Maß die Nutzung der Kernenergie auf indirektem Weg zur Freisetzung von Kohlendioxid beiträgt.
Berechnungen zeigen, dass der gesamte Lebenszyklus eines Kernkraftwerks nur ein Zehntel der Kohlendioxidmenge eines gleichleistungsstarken fossilen Kraftwerks freisetzt. Bezieht man alle mit dem Betrieb des Fossilkraftwerks verbundenen industriellen Prozesse (zB. Transport von Kohle) mit ein, so verschiebt sich die Klimabilanz nochmal stark zugunsten der Kernenergie.
Die Energie- und Forschungspolitik der Grünen erscheint in diesem Licht einfach nur rückschrittlich und unverantwortlich. Nicht nur die Leistungsreaktoren sollen abgeschaltet werden, auch die Forschungsreaktoren stehen plötzlich auf der Kippe! Sogar gegen die Kernfusion machen grüne Politiker nun Stimmung. Man wartet beinahe auf den Tag, an dem die Grünen auch noch die Nuklearmedizin abschaffen wollen, da sie ebenfalls auf radioaktive Elemente angewiesen ist.
Aus meiner Sicht ist es besonders störend, dass viele in der Piratenpartei finden, auf den “Anti-Nuklear-Zug” aufspringen zu müssen. Die Piraten sollten, als einzige wirklich moderne und zukunftsorientierte Partei, zur Kerntechnik einen weniger hysterischen, rationaleren Zugang finden. Hochtechnologie besteht eben nicht nur aus Laptops und Solarzellen (gegen die natürlich per se nichts einzuwenden ist).
Historisch hat sich die Piratenpartei aus einer Hackerbewegung entwickelt, die sich für eine Lockerung und Neubewertung des Copyrightgesetzes für Daten im Internet stark gemacht hat. Inzwischen hat sich daraus ein politisches Konzept entwickelt, das darauf abzielt, alles Wissen der Menschheit für jeden frei verfügbar zu machen. Hinzu kommen Ideen bezüglich der maximalen Transparenz des Staates, der Kontrolle jedes Menschen über seine persönlichen Daten, sowie des Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe, was von manchen im Sinne eines Bedingungslosen Grundeinkommens gedeutet wird. Basis für eine Zivilisation, in der solche Konzepte fruchten können, ist jedoch eine hochentwickelte, moderne Industrie. Man bezeichnet zwar die heutige Gesellschaft oft als “postindustrielle” oder “Informationsgesellschaft”, dies vernachlässigt aber, dass die elementare Grundlage unserer Existenz die produzierenden Wirtschaftszweige sind: Computer, Generatoren, Eisenbahnzüge, Flugzeuge und andere technische Produkte müssen in Industriewerken gefertigt werden, ganz zu schweigen von elementaren Grundbedürfnissen wie Wohnraum, Kleidung und Nahrung. Damit diese in großem Umfang vorhanden sind, und die Menschen auch die Freiheit haben, die neuen technischen Möglichkeiten kreativ zu nutzen, ist eine industrielle Infrastruktur mit hohem Automatisierungsgrad notwendig. Diese erfordert wiederum starke Leistungsströme.
Daher sollten wir eine kompakte, effiziente Energiequelle nicht aus purer Furcht über Bord werfen. Auch ist die Beherrschung von Naturkräften ein kultureller Wert an sich. Das umfassende Wissen, das die Piraten allgemein zugänglich machen möchten, muss ja erstmal durch Forschung gesammelt werden. Wirklich verstanden hat man physikalische Prinzipien aber immer nur dann, wenn sie nicht nur theoretisch untersucht, sondern auch praktisch angewendet wurden. Und die Nutzung der Atomkerne stellt in gewisser Hinsicht eine Art submikroskopische “Final Frontier” dar: Es handelt sich um die kleinsten Strukturen (~ 10^-14 m), die jemals menschlicher Beherrschung zugänglich waren. Der Berliner oder Münchener Forschungsreaktor sollte daher den Piraten kein Dorn im Auge sein, sondern ein Fenster in die Zukunft!
Beim Blick durch dieses Fenster sollten wir uns überlegen, wie unsere Zukunft aussehen soll! Wollen wir eine Menschheit, die in Stillstand verfallen ist, weil sie energetisch gerade so über die Runden kommt, oder eine “ausbaufähige” Zivilisation, die bei Bedarf immer größere Energiemengen mobilisieren kann? Ersteres mag nach dem Geschmack irgendwelcher reihenhausidyllischer Rechtskonservativer sein, aber gewiss nicht nach dem Geschmack von Piraten! Ein Pirat, egal ob nun im Sinne von Jack Sparrow oder eines digitalen Freiheitskämpfers, liebt das Abenteuer und nicht den Stillstand. Das größte Abenteuer der Menschheit ist die Forschung, und zwar insbesondere die Erforschung des Kosmos. Will man die Raumfahrt aber in größerem Umfang in Angriff nehmen, sind schwächliche chemische oder elektrische Antriebe nicht mehr das Mittel der Wahl. Chemische Raketen haben hohe Schubkräfte aber kurze Brenndauern und erzielen daher vergleichsweise niedrige Endgeschwindigkeiten. Ionenantriebe erreichen höhere Endgeschwindigkeiten, aber wegen der extrem geringen Schubkraft erst nach Wochen oder Monaten. Nuklear angetriebene Raumschiffe dagegen vereinen die Vorteile von chemischen und elektrischen Raketen ohne die jeweiligen Nachteile: Ihre Schubkräfte sind hoch, aber auch die Brenndauern. Sie ermöglichen es, mit verhältnismäßig geringem Aufwand Tausende von Tonnen Nutzlast zu anderen Planeten und zurück zu transportieren.
Kein Mensch möchte seine Lebenshoffnungen nur darauf setzen, dass bald die neue PC-Generation auf den Markt kommt und die Grafik der Videospiele noch etwas lebensechter wirkt. Der Mensch möchte sich ausdehnen, forschen, erkunden, denken und Abenteuer erleben. Wir sollten der nächsten Generation kein doziles Leben zwischen Büroarbeitsplatz und Spielkonsole bescheren, sondern die Möglichkeit, die Saturnmonde aus der Nähe zu sehen!
Futurologen haben für die Klassifizierung des Entwicklungsstandes von Zivilisationen die sogenannte Kardaschow-Skala eingeführt (benannt nach dem russischen Astrophysiker Nikolai Semjonowitsch Kardaschow). Diese gibt an, welche Gesamtleistung eine Zivilisation nutzbar machen kann:
Typ 1: Gesamte auf einem Planeten verfügbare Leistung – rund 10^16 W.
Typ 2: Gesamte Leistung eines Sterns – 10^26 W.
Typ 3: Gesamte Leistung einer Galaxis – 10^36 W.
Carl Sagan unterteilte die logarithmische Skala noch feiner in Dekaden – so nutzt eine Zivilisation der Stufe 1.1 10^17 W, der Stufe 0.7 10^13 W, was ungefähr unserem derzeitigen Entwicklungsstatus entspricht. Bezüglich des Datenaustauschs haben wir übrigens schon Stufe 1 erreicht – durch das den ganzen Planeten umspannende Internet. Im Bereich der Politik wäre ein demokratischer Weltstaat ein “Kardaschow-1-Gebilde”. Die europäische Union ist ein erster zaghafter Schritt in diese Richtung.
Die nutzbar gemachte Energie korrelierte im Laufe der bisherigen Geschichte stets mit dem erreichten Technologielevel. Man kann darüber spekulieren, welche Techniken in der Zukunft beim Erreichen der verschiedenen Kardaschowstufen zur Verfügung stehen werden. Zivilisationen auf Stufe 1 betreiben vermutlich bereits Raumfahrt in großem Umfang in ihrem ganzen Sonnensystem, verfügen über intelligente Computer und Nanocompiler. Kardaschow-2-Zivilisationen experimentieren vielleicht bereits mit interstellarer Raumfahrt. Und Zivilisationen auf Stufe 3 würden fraglos über geradezu “götterartige” Fähigkeiten verfügen: Überlichtflug, Umbau der Raumzeit, Bau künstlicher Sonnen und Planeten, vielleicht sogar Erschaffung neuer Universen, als Zufluchtsort, wenn unser Universum erkaltet.
Was sagen uns solche futuristischen Spekulationen über heutige energiepolitische Entscheidungen? Dass wir, wenn wir zu höheren technologischen Entwicklungsstufen fortschreiten wollen, uns nicht damit zufrieden geben sollten, unsere Energieversorgung auf einem bestimmten Niveau “einzufrieren”, sondern nach Möglichkeiten suchen müssen, sie weiter zu erhöhen. Eine Reduktion des Energieverbrauchs kann zwar vorübergehend eine sinnvolle Maßnahme zur Verringerung des CO2-Ausstoßes sein, mittel- und langfristig wird eine sich entwickelnde Zivilisation aber darauf angewiesen sein, immer mächtigere Quellen zu erschließen. Dabei werden auch Kernreaktionen fraglos eine wichtige Rolle spielen.
Und natürlich sagt uns der Blick aus der “Kardaschow-Perspektive” auch, dass wir uns nicht von jeder neuen Technologie ängstlich zurückziehen sollten, nur weil diese anfangs Risiken mit sich bringt. Um den Bynaus-Artikel zu zitieren: Wo wären wir hingekommen, wenn der erste Hominide, der mit dem Feuer experimentierte, nach der ersten Brandblase aufgegeben hätte?
Dies sollte an für sich gerade den Piraten einleuchten: Schließlich haben sie sich schon oft an “Freiheit-statt-Angst”-Kampagnen beteiligt. Man erlangt jedoch keine Freiheit, indem man alles krampfhaft vermeidet, was potentiell gefährlich sein könnte. Man erlangt sie, indem man die Gefahr rational betrachtet, und dann Maßnahmen trifft, die es ermöglichen, die Gefahr zu beherrschen – im Fall der Kernkraft durch die Entwicklung neuer Reaktortypen, die inhärent sicher ausgelegt sind. Auch die Tabuisierung ganzer Technologiezweige ist letztlich das Gegenteil von Freiheit. Wenn man die durch staatliche Unterdrückung und Kontrolle auferlegten Fesseln abwerfen möchte, sollte man sich nicht selbst gleich darauf neue anlegen. Freiheit schützt man nicht, indem man sie abschafft. Man schützt sie auch nicht, indem man sich von seinen eigenen Ängsten beherrschen lässt. Freiheit sollte mutig sein, nicht furchtsam.
Das Ziel sind die Sterne, und kein Kleingartenidyll.
Anmerkung: Dieser Artikel beruht auf einem Blogpost von @NeilBrainstrong und wurde gegenüber der Urfassung gekürzt.